Körperkino
Gregor Schmidingers Filme kreisen in einer ganz eigenen Ästhetik um Homosexualität, Angst und Sehnsucht nach Zärtlichkeit. Der Regisseur schöpft dabei aus seinem eigenen biografischen Fundus, visualisiert Gefühlszustände und spielt geschickt mit der Wahrnehmung seines Publikums. Warum sein Spielfilmdebüt Nevrland (Kinostart 13.9.) „post gay“ ist, wie man in einem Technoclub gegen Panikattacken antanzt und wozu er das Porn Film Festival Wien mitbegründet hat, erzählt der Filmemacher im Gespräch.
Nachts im Wald, alles verschlingende Dunkelheit: Zwei junge Soldaten stehen einander gegenüber. Der eine richtet die Waffe auf die Brust seines Gegenübers. Langsam lässt er den Lauf des Gewehres in Richtung Kopf wandern und bohrt ihn schließlich in den Mund seines Kameraden. Den Finger am Abzug, bereit zum Abschuss. Brutalität und Intimität vermischen sich in dieser angespannten Lage zu einem explosiven Konglomerat existenzieller Bedürfnisse. Die beschriebene Sequenz ist der Anfang des Kurzfilms Homophobia (AT 2012, 24 min) von Gregor Schmidinger. In vielerlei Hinsicht vermittelt diese einen Eindruck von der expressiven Bilderwelt und radikalen Erzählweise, die sich durch das Werk des 1985 in Linz geborenen Filmemachers ziehen. Denn Gregor macht körperliches Kino, düster und hoffnungsvoll zugleich, indem er psychische Gewalt visualisiert und die Gefühlszustände seiner Protagonisten spürbar macht. In einer ganz eigenen Ästhetik kreisen seine Filme um Homosexualität, Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Angst, wobei der Regisseur geschickt mit der Wahrnehmung seiner Zuschauer spielt.
Als Inspirationsquellen für sein Schaffen nennt der Regisseur Gaspar Noés Filmsprache, Stanley Kubricks Fähigkeit, Räume zu gestalten, und David Finchers Umgang mit Dunkelheit. Auch Die Klavierspielerin von Michael Haneke und Ingmar Bergmans Persona schätzt der 34-Jährige sehr: „Das alles sind Einflüsse, die sich zu einer Melange verbinden. Meine Filme sind düster, aber gleichzeitig lassen sich Trost und Sensibilität in der dunklen Härte finden“, sagt Gregor. Dabei stehen die Bilder aber immer im Vordergrund, sie sind Ausgangspunkt für seine filmischen Erzählungen. „Mit Dialogen tu ich mir schwer, das Visuelle ist für mich sehr einfach. Ich versuche viel über Bilder und Atmosphären zu erzählen“, sagt der Filmemacher. „Bei Homophobia hatte ich zum Beispiel das Bild von den zwei Jungen im Kopf, die im Wald stehen, und der eine hält die Waffe auf den anderen. Aber gleichzeitig erkannte ich, dass da eigentlich ein irrsinniges Bedürfnis nach Intimität herrscht, das sich nur über Gewalt ausdrücken kann. Dann begann ich das zu erforschen: Wer sind die Charaktere und was sind ihre Umstände?“
Homophobia ist Gregors zweiter Kurzfilm, den er mithilfe einer Crowd-Funding-Kampagne über die Internetplattform Indiegogo finanzierte. Innerhalb von nur 69 Tagen kamen 10.100 US-Dollar zusammen und der junge Österreicher konnte seinen Zwanzigminüter über einen jungen Soldaten beim Bundesheer realisieren, der aufgrund seiner Homosexualität mit Ausgrenzung und Mobbing zu kämpfen hat. Homophobia sowie auch der erste Kurzfilm des Oberösterreichers mit dem Titel The Boy Next Door (USA 2008, 14 min) verhalfen Gregor bereits zu großem Internetruhm: Beide Filme bekamen über 15 Millionen Klicks auf YouTube. Im September startet nun das Langfilmdebüt Nevrland (AT 2019, 90 min) des Jungregisseurs in den österreichischen Kinos, das Anfang 2019 auf dem Max Ophüls Festival in Saarbrücken Premiere feierte. Dort gewann der Film den Preis der Jugendjury und dem Hauptdarsteller Simon Frühwirth wurde der Preis für den Besten Schauspielnachwuchs verliehen. Auch bei der Diagonale’19 verzeichnete Nevrland bereits Erfolge: Gregor erhielt für sein Drehbuch den Thomas Pluch Spezialpreis der Jury und Frühwirth den Diagonale-Schauspielpreis.
Doppelter Erfolg für Nevrland beim Max Ophüls Festival 2o19: Preis der Jugendjury für Gregor Schmidinger und Preis für den Besten Schauspielnachwuchs für den Hauptdarsteller Simon Frühwirth. (Foto ©ffmop/Sebastian Woithe)
„Das Internet war ein wichtiger Katalysator und Begleiter für mich in meiner Entwicklung“, erzählt Gregor, der nach seiner Matura Digitales Fernsehen an der Fachhochschule Salzburg studierte. Mit 13 Jahren bekam er, dessen Traum und Ziel es laut eigenen Angaben immer schon gewesen sei, Filme zu machen, seinen ersten eigenen Rechner mit Internetzugang und Schnittprogramm. In Foren tauschte er sich mit Leuten aus, die auch Filme machen wollten, lud seine Clips hoch und eignete sich alles über Einstellungsgrößen und sonstiges filmtechnisches Wissen an. Dieses vertiefte er während seines eher technisch ausgerichteten Studiums in Salzburg, das er mit einem Diplom-Ingenieur abschloss.
Erst das Auslandsjahr, das er 2007 an der Bowling Green State University in Ohio absolvierte, motivierte ihn dazu, weiter in den künstlerisch-kreativen Bereich vorzudringen. Er besuchte in den USA hauptsächlich Kurse in Creative Writing, Directing und Filmhistory und schrieb das Drehbuch zu seinem ersten Kurzfilm The Boy Next Door. „Dort hat es plötzlich geswitcht und die Technik rückte in den Hintergrund. Zum ersten Mal habe ich angefangen, eine Geschichte zu erzählen, die aus mir heraus entstanden ist. Wo das Thema Angst drin ist, die queere Perspektive, der Wunsch danach, Anschluss zu finden und das Erleben von Ausgrenzung.“
Hier war es das Bild von dem kleinen Jungen und dem nackten Callboy in einem Hotelzimmer, das Gregor zu seinem Film über eine ungewöhnliche Freundschaft inspirierte: „Wie kommen die beiden zusammen? Was sind die Umstände, dass ein Sexarbeiter eine Freundschaft mit einem Kind eingeht, das noch keine Sexualität hat. Wie kann man eine Ebene der Freundschaft erzählen, die unter Gleichaltrigen schwierig wäre, weil eine sexuelle Komponente mitreinkommen kann?“ – Fragen, mit denen sich der Filmemacher während der Entwicklung von The Boy Next Door konfrontierte. Da Gregor spürte, dass er auf dem richtigen Weg war, entschloss er sich anschließend für ein Drehbuchstudium an der University of California in Los Angeles, das er online von Österreich aus absolviere. Einmal pro Woche besprach er sich nachts um drei mit seinen Dozenten in den USA per Skype, alle zwölf Wochen musste er einen Drehbuchentwurf für einen 90-Minüter abliefern.
Die harte Schule und sechs Jahre Arbeit am Skript haben sich gelohnt: Gregors Debüt Nevrland fühlt sich an, als wäre es aus einem Guss. Erzählt wird darin eine „große Reise zurück in den Körper“, wie der Filmemacher es ausdrückt. Der 17-jährige Jakob ist schwul, sehr schüchtern und leidet an einer Angststörung. Seine Panikattacken machen die Aushilfsarbeit, die er in einem Schlachthof leistet, bald unmöglich. Er flüchtet sich in die virtuelle Welt des Internet und lernt dort in einem Sex-Cam-Chat den 26-jährigen Künstler Kristjan kennen. Durch diesen eröffnet sich für Jakob zwischen Technoclubs, delirierender Extase und gelebter Körperlichkeit eine neue Welt. In dieser dominieren monotone Rhythmen, Spiegeleffekte und Projektionsflächen, tranceartige, (alb)traumhafte Sequenzen rauben nicht nur der Hauptfigur buchstäblich den Atem und machen dessen innere Kämpfe sicht- und spürbar. Schmidinger schöpft hierbei aus seiner eigenen Biografie als homosexueller Jugendlicher auf dem Land mit einer Angststörung, an der er jahrelang litt und die nun seit vier Jahren verschwunden ist. Kunst sei für ihn – zusätzlich zum therapeutischen Kontext – eine Möglichkeit, rauszutreten, zu betrachten und zu verarbeiten, sagt Gregor.
Still aus Nevrland. Jakob (Simon Frühwirth) leidet an einer Angststörung.
Der Regisseur möchte mit seinem Film einen Beitrag leisten, Angststörungen als psychische Krankheit anzuerkennen: „Ich wünsche mir, dass der Film ein Trost für Betroffene ist oder ihnen zumindest vermittelt, dass sie nicht allein sind. Und für alle anderen, die Angststörungen nicht kennen, bietet er die Möglichkeit, diese spürbar zu machen und dadurch vielleicht ein bisschen mehr Verständnis für diejenigen aufzubringen, die darunter leiden. Gerade Depression oder Mental-Health-Geschichten sind so schwierig nachzuvollziehen. Unter einem gebrochenen Fuß kann man sich etwas vorstellen, unter einer psychischen Krankheit nicht. Wie oft habe ich gehört: ‚Entspann dich doch mal.’ Zum Glück hat sich in Sachen Akzeptanz solcher Leiden mittlerweile einiges getan. In der Generation meines Vaters gab es null Verständnis dafür. Da hieß es noch, Depression sei ein Zeichen von Schwäche“, so Gregor.
In Nevrland wird diese generationsübergreifende Verständnislosigkeit in einer Szene zwischen Jakob und seinem Vater abgebildet, den Josef Hader spielt. Nach einer Untersuchung im Krankenhaus kommt der junge Mann nach Hause und antwortet dem Vater auf die Frage nach seinem Befinden, dass er nichts Körperliches habe. „Was denn sonst?“, erwidert dieser. Panikattacken, wie die, unter denen sein Sohn leidet, existieren in seiner Welt nicht. Gregor habe Hader für diese Rolle schon beim Schreiben im Kopf gehabt, allerdings sich keine großen Hoffnungen gemacht, dass der Schauspieler wirklich zusage. Doch Hader beeindruckten die Bilder im Drehbuch und er ließ sich auf das Projekt ein.
Stills aus Nevrland: Simon Frühwirth mit seinem Film-Vater Josef Hader (oben) und Film-Arbeitskollegen Anton Noori (unten).
Gesprochen wird in Gregors Filmen generell nicht viel. Auch seine Figuren haben Gemeinsamkeiten: „Alle meine Charaktere sind getrieben von einer Sehnsucht nach Nähe und Intimität. Im Grunde ist es diese Suche nach der Ursicherheit, einer körperlichen Nähe, die per se nichts mit Sexualität zu tun haben muss. Wenn ich so darüber nachdenke, hat der Escort aus The Boy Next Door ziemlich viel Ähnlichkeit mit Kristjan aus Nevrland“, so der Regisseur. Die Frage danach, ob man eine Wahrnehmung anerkennt, die keine physische Grundlage hat, zieht sich durch Gregors Werk. In The Boy Next Door sind die Monster für den kleinen Jungen real, weil er die Angst körperlich spürt. Den Callboy quälen zwar auch Panikattacken, er betäubt sich jedoch durch Tabletten. In Nevrland gelingt es Jakob, sich sein Körpergefühl und somit seine Realität durch das Tanzen im Technoclub zurückzuerobern. Die sehr starke und präsente Soundebene in Nevrland bot Schmidinger eine weitere Möglichkeit, sich dem Thema Angst akustisch zu nähern.
„Techno ist eine sehr körperliche Musik, weil der Bass extrem spürbar wird. Ein Technoclub ist wie eine postschamanische Höhle: Die Trommeln sind elektronisch und die Substanzen synthetisch. Das Tranceinitiierende, Monotone und Rhythmische geben gleichzeitig Sicherheit, weil der Takt so vorhersehbar ist. Das sind Erfahrungen, die ich selbst gemacht habe und von denen ich überzeugt bin, dass sie mir in der Bewältigung meiner Angst geholfen haben. Bei Angst- und Panikstörungen wird der Körper ja zu deinem größten Feind. Man möchte aus ihm aussteigen oder sich betäuben. So ein geschützter Rahmen in einem Club mit Leuten, die man kennt, ist da eine gute Möglichkeit.“
Gregor mit Paul Forman, der im Film Kristjan spielt, am Set von Nevrland. (Foto ©Fabio Eppsteiner)
Auch wenn Gregor aus seinem eigenen biografischen Fundus schöpft, ist es ihm wichtig, sexuelle Identität im Film nicht als Problem darzustellen. „Post gay“ nennt er dieses Genre, das eine LGBTQ-Figur als Protagonisten hat, dessen sexuelle Orientierung aber nicht weiter thematisiert. „Natürlich ist der Coming-out-Prozess für viele nicht einfach, aber es gibt auch ein Leben danach. Als ich in dem Alter war, hatte ich den Wunsch, schwule Charaktere zu sehen, die ein Leben führen und andere Probleme abseits davon haben“, sagt Gregor. Nevrland sei ein Beziehungsdrama, nur eben zwischen zwei Jungs, das mit der Überhöhung der Liebesgeschichte spiele. Dem Internetraum kommt im Film eine große Bedeutung zu: Hier sucht Jakob zwischen Pornos und Chat-Roulette nach Zerstreuung, Anschluss und Liebe. Auch im realen Leben beschäftige Gregor das Thema Pornografie sehr. In einer Selbsterfahrung, die er in einem TEDx Talk verarbeitete, erforschte er nicht nur die Ursachen der eigenen pornoinduzierten Erektionsstörung, sondern begründete auch 2018 das Porn Film Festival Wien mit.
„Das Thema Pornografie ist in mein Bewusstsein gedrungen, weil sie seit der Highspeed-Revolution des Internet gesellschaftlich so einen großen Raum einnimmt und meine eigene Sexualität negativ beeinflusste.“ Auf dem Land sei Pornografie oftmals der erste Zugang zur Erforschung der eigenen Sexualität, so der Regisseur. Dabei könne der Überkonsum eine Sucht auslösen, unter der die authentische Sexualität leide. „Im Grunde ist Porno ein Werkzeug, je nachdem wie man es benutzt, kann es schädlich und wertvoll sein. Natürlich gibt es auch Pornografie, die nicht unter ausbeuterischen Umständen erzeugt wird und die mehr mit einer authentischen Intimität zu tun hat als mit verzerrten Fantasien. Das Porn Film Festival war eine Möglichkeit, einen gesellschaftlichen Raum zu schaffen, in dem man darüber diskutieren und reflektieren und dem Thema die Scham nehmen kann. Wenn wir uns über Pornografie unterhalten können wie über die Fußball-WM, dann können wir vielleicht auch darüber reden, was die Bilder mit uns machen.“
Gregors Bilder, das betont der Filmemacher, sind auf jeden Fall fürs Kino gedacht: „Es macht eben schon einen Unterschied, ob sechs Subwoofer und 26 unterschiedliche Lautsprecher in Aktion sind, der Soundtrack hört sich einfach anders an“, sagt er über seinen aktuellen Kinofilm. Davon kann man sich ab dem 13. September selbst überzeugen.