„Trotzdem“ ist besser als Stillstand
Sichtweisen

„Trotzdem“ ist besser als Stillstand

Anna Ladinig, Dezember 2020

Anna Ladinig, studierte Slawistin, kuratierte 2017 das erste Mal einen Länderschwerpunkt zu Kirgistan am IFFI – Internationales Filmfestival Innsbruck. 2020 hätte sie ihre erste Ausgabe als neue Festivalleiterin machen sollen. Es wurde ein Festivaljahr mit vielen Erkenntnissen und „Trotzdems“. Anna möchte eigentlich nichts Positives an dieser Pandemie finden.

Der folgende Text ist einer von vier Rückschauen auf das Jahr 2020.

>>

Das IFFI – Internationales Film Festival Innsbruck wurde 28 Jahre von Helmut Groschup geleitet. Im Oktober 2019 bin ich seine Nachfolge angetreten. Es stellte sich heraus, dass 2020 ein spezielles Jahr war, um mein erstes Festival zu planen.

Zunächst ein kurzer Abriss des IFFI-Jahres: Das IFFI hätte im Mai 2020 stattfinden sollen. Im März beschließen wir, das Festival auf den November nach der Viennale zu verschieben. Zufällig genau in der Woche des ursprünglichen IFFI-Termins verkündet die Regierung am Montag, dass die Kinos doch am Freitag und nicht erst im September wieder öffnen dürfen. Wir zeigen an diesem Wochenende mit dem „Curtain Raiser“-Programm drei Filme und bieten einen kleinen Vorgeschmack auf das Festival im November. Im Juli zeigen wir Do the Right Thing (1989) von Spike Lee vor dem Hintergrund von neuerlichen Fällen von rassistischer Polizeigewalt. Im September verschärft sich die Corona-Lage erneut und wir beginnen, mit mehreren Szenarien zu arbeiten. Dies kommt uns zugute, als die Regierung am Donnerstag vor dem Festivalbeginn eine Pressekonferenz für Samstag ankündigt und ein neuerlicher Lockdown in Aussicht gestellt wird. Am Samstag ist es gewiss – das IFFI wird nicht als Präsenzveranstaltung stattfinden. Ein Ausschnitt des Programms stellen wir online zur Verfügung und auch die Wettbewerbe finden virtuell statt. Das IFFI 2020 kommt trotz der kurzfristigen Änderungen gut an. Es fühlt sich zugegebenermaßen trotzdem für mich nicht gänzlich befriedigend an.

Rückblickend wundere ich mich über meine geringe Vorstellungskraft. Ich konnte am Anfang nicht imaginieren, was noch alles möglich sein würde. Ich erinnere mich sehr gut an eine junge chinesische Regisseurin, die mir in Rotterdam im Jänner erzählte, dass sie momentan vorerst in Europa gestrandet sei. Sie war im Begriff, von den USA zurück nach China zu ziehen, und legte einen Zwischenstopp am IFFR – International Film Festival Rotterdam ein, dann wurden die Flüge gestrichen. Ein klammes Unbehagen machte sich schon in mir breit und die Befürchtung, dass diese anfangs noch rätselhafte Krankheit nicht nur China betreffen könnte. Im März beim Elevate-Festival in Graz scherzte ich noch mit Galgenhumor mit einem Kollegen, dessen Veranstaltung auch im Mai stattfinden sollte, dass uns nur noch der Virus aufhalten könne. Zu diesem Zeitpunkt war eine Verschiebung und das Fehlen internationaler Gäste meine größte Befürchtung. Dass das IFFI nur online stattfinden könnte, wäre mir im März im Traum nicht eingefallen.

Vor einem Jahr war nämlich ein Onlineveranstaltung für mich keine Option, und nach wie vor stört mich der Ausdruck Onlinefestival. Hier hat sich in diesem Jahr mein Zugang jedoch von einem beinahe ideologischen zu einem pragmatischen verändert. Plötzlich hat das Wort „trotzdem“ hohe Frequenz in meinem Sprachgebrauch. Denn obwohl klar ist, dass ein Festival bereits mit dem erarbeiteten Sicherheitskonzept einige zentrale Elemente wie die Dichte des Programms, der Debatten und Meinungen nur bedingt zulässt, so ist es trotzdem besser, als keine Veranstaltungen zu haben. Das wird klar auf anderen Veranstaltungen. Venedig hat vorgeführt, dass trotzdem eine Stimmung aufkommen kann. Und bei lokalen Festivals wie dem Heart of Noise und der Diametrale zeigte sich, wie groß die Lust auf Kultur ist. Obwohl das Onlineformat niemals an das kollektive Erlebnis im Kinosaal herankommt und auch das intensive Einlassen auf einen Film im dunklen Kinosaal nicht ersetzen kann, so ist es trotzdem besser als Stillstand. Außerdem eröffnen sich plötzlich neue Möglichkeiten. Ein Herr schreibt mir, dass er sich sehr über das Onlineangebot freut, weil ihn unser Programm sehr interessiert, er aber zu weit weg von Innsbruck lebt, um ins Kino zu kommen. Eine junge Mutter schildert, wie sie ihren Abend nach dem Ins-Bett-bringen der Kinder mit einem Film ausklingen lässt. Das sind ermutigende Momente und von denen gab es selbst in diesem herausfordernden Jahr ein paar. Zum Beispiel als sich beim „Curtain Raiser“ im Mai das erste Mal seit drei Monaten der Vorhang hebt und alle Besucher*innen beginnen, zu applaudieren. Oder die Reaktionen der Preisträger*innen auf die Nachricht, dass sie gewonnen haben. Oder das erste Mal das frisch gedruckte Programmheft durchzublättern.

Das nächste Festival findet vom 19. – 24. Mai 2021 statt. Das ist in nur wenigen Monaten und es ist gewiss ein ambitionierter Zeitplan. Davor wollen wir noch die Siegerfilme im Kino auf der großen Leinwand zeigen. Ich will nicht noch ein Ausnahmejahr planen und den Festivalkalender von vornherein durcheinanderbringen. Ob das dann tatsächlich möglich ist, ist in einer Zeit, in der man lediglich eine Woche vorplanen kann, nicht sicher. Aber wenn wir in diesem Jahr etwas gelernt haben, dann sind das eine gewisse Gelassenheit, weil wir einfach nicht alles kontrollieren können, und Flexibilität, weil es dann so oft anders als geplant kommt.

Ich möchte eigentlich nichts Positives an dieser Pandemie finden, persönliche Verluste machen dies zunehmend schwieriger und die viel gelobte Entschleunigung nervt. Aber krisenhafte Momente bieten Chancen. Im Jargon der Formalisten könnte man die Pandemie als ein Verfremdungsverfahren bezeichnen, das uns zwingt, gewohnte Betrachtungen „frisch“, ohne vorgefertigte Interpretationsmuster wahrzunehmen und Zustände neu zu eruieren. Es sind zahlreiche bestehende Ungerechtigkeiten und krisenhafte Situation deutlich zutage getreten wie beispielsweise (globale) Ungleichheiten, systemischer Rassismus, die Dehumanisierung ganzer Gruppen und die beinahe unfassbaren Auswirkungen der Klimakrise. Ich denke nicht, dass sich diese Themen von selbst zum Besseren ändern, aber es hat sich ein Fenster geöffnet zum Mitgestalten – und da kommt es auf uns alle an.

Liebes 2020, ich verabschiede mich gerne von dir. Liebes 2021, ich bin voller Hoffnung, dass du besser wirst!

<<

Foto oben (Ausschnitt) © Johannes Kostenzer

Anna am Abend der geplanten und dann abgesagten IFFI-Festivaleröffnung im leeren Kinosaal. Foto © Michael Klingler