Julia Franz Richter ist Schauspielerin. Bei der Diagonale’20 erhielt sie den Schauspielpreis für den Kinospielfilm Der Taucher, beim Kurzspielfilmpreisträgerfilm FISCHE spielte sie eine der beiden Hauptrollen. Seit dem ersten Lockdown stand sie für drei Filmprojekte vor der Kamera. Von diesem Jahr bleiben ihr mehr Fragen als Antworten – und einige Wünsche.
Der folgende Text ist einer von vier Rückschauen auf das Jahr 2020.
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Von 2020 bleiben mir keine Tagebucheinträge, keine Antworten, keine Resümees – nur Fragen, Fragmente.
Ich bin dankbar.
Dafür, dass ich in einem Jahr wie diesem (lohn)arbeiten konnte – noch dazu in einem Beruf, in dem ich mich zuhause fühle. In einem Jahr, in dem die Arbeitslosigkeit so groß ist wie lang nicht mehr und das so viele Existenzen bedroht.
Ich bin wirklich dankbar. Aber wem?
Wer darf Geschichten erzählen und wer wird erzählt?
Wer finanziert und wer wird finanziert?
Warum kämpfen wir in Krisenzeiten oft nur für uns selbst?
Was würde passieren, wenn Kulturschaffende für Pflegekräfte auf die Straße gingen und umgekehrt?
Kann es eine Revolution der Verletzlichkeit geben?
Wie kann man sich bei all dem Druck den Raum für subjektives Experimentieren schaffen, für den Versuch, normative Identitäten radikal infrage zu stellen (Verweis auf Paul B. Preciado), in einer Branche, die Stoffe und Persönlichkeiten oft auf ihre Kommerzialisierbarkeit abklopft?
Warum werden wir nicht einfach dafür bezahlt, am Leben zu bleiben? Das allein ist ein ziemlich großes Achievement, finde ich.
Wieviel Medienkonsum kann ich händeln?
Sind Kino und Theater vielleicht auch deshalb so wichtig, weil sie Räume kollektiver Konzentrationsübungen sind?
Wenn mein Erlebtes, meine Erfahrungen gewissermaßen das Archiv sind, aus dem ich als Spielerin schöpfe: Kann dieses Archiv nach Monaten sozialer Isolation irgendwann versiegen?
Mehr Autor*innenschaft?
Ist eigentlich immer schon so viel gleichzeitig passiert oder kommt das nur mir so vor?
Wie kann ich eine automatische Mail einrichten, eine standardisierte Abwesenheitsnotiz, die mir ermöglicht, meine Nachrichten erst in drei Wochen zu beantworten?
Form follows function or form is function?
Wieso war der Himmel während des ersten Lockdowns so blau?
Wieso interessiert sich die Kirche so sehr für meinen Uterus?
Ist es möglich, einen weiteren Lockdown ohne Alkohol zu überstehen?
Kann man süchtig werden nach Nein-Sagen?
Ist Fleetwood Mac vielleicht wirklich die beste Band der Welt?
Was ist transformative Gerechtigkeit und wie kann ich die auf mein berufliches Umfeld anwenden?
Quote für FLINT-Personen, PoC, Menschen mit Behinderung, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen aus Arbeiter*innenfamilien – unrealistisch, aber notwendig?
Wieso regt sich der Kollege auf, wenn ich einen Mann spiele, hat aber kein Problem damit, wenn ich als Tanne auf der Bühne stehe?
Will ich wirklich Kinder oder denke ich nur, ich müsste welche wollen, oder will ich vielleicht keine, weil ich denke, ich würde mich damit einem System unterordnen, dass ich eigentlich stürzen will? Darf es mir auch einfach wurscht sein?
Darf ich in Zeiten globaler Krisen glücklich sein?
Allianzen bilden Allianzen bilden Allianzen bilden Allianzen bilden choose your family, fight heteronormativity.
Wie können wir Geschichten über Ungleichheit oder marginalisierte Gruppen erzählen, ohne diese Unterdrückungsmechanismen auf der Bildebene zu reproduzieren?
Geschichten bilden nicht nur Wirklichkeit ab, sie konstituieren Wirklichkeiten – wie können wir neue Narrative schaffen, neue Mythen, neue Held*innen?
Brauchen wir dafür abstraktere Erzählformen?
Welche Geschichten kann ich erzählen?
Warum gibt es in Österreich einerseits 12-Stunden-Drehtage und andererseits so viele selbstständige Filmschaffende, die nicht arbeiten können?
Lässt sich die Hierarchie zwischen den verschiedenen Departments durchlässiger denken?
Wer produziert und für wen wird produziert?
Was ist dieser heilige ‚Markt’, von dem alle sprechen?
Weihnachtswunschzettel:
Eh klar. Mehr Förderung von Nachwuchsregisseur*innen.
Empowerment einer nachkommenden Generation, den eigenen Intuitionen und Ideen zu vertrauen und Raum für Utopien zu ermöglichen.
Was macht uns zu politischen Subjekten und fängt das nicht alles mit Entscheiden an?
Wer kann denn hier bitte entscheiden?
Wer darf denn?
Wählen?
In Wien? In Österreich?
Wer nicht?
Bitte.
Ich will Regisseur*innen, die mal nicht weiter wissen.
Spieler*innen, die sich auch zu scheitern trauen.
Mehr Verwundbarkeit. Mehr Mut. Nicht nur von der Branche. Von mir. Mehr Arbeit ist nicht gleich mehr Happiness. Freiheit und Individualismus sind nicht nur Begriffe, sondern Konstrukte. Arbeitslosigkeit ist kein Fehler im System, sondern systemimmanent. Dazu da, Menschen davor in Angst zu halten und in ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse zu drängen. Auch in der Kunst.
Ich bin dankbar. Für all die crazy spirit animals, mit denen ich, trotz allem, Projekte realisieren konnte dieses Jahr.
Auf dem Sofa zu sitzen und einen Text über 2020 zu schreiben, allein das ist schon ein Privileg.