„Ich habe eine Vorliebe für Fehler, Befremdliches, Verzerrtes“
Leonhard Pill, 1987 in München (DE) geboren, studierte nach dem Zivildienst an der Universität Salzburg Psychologie, Philosophie, Portugiesisch und Russisch und schloss 2017 im Psychologie-Master ab. Musik macht Leonhard seit er 18 Jahre alt ist, seit 2014 ist er als Bildender Künstler, Fotograf und Filmemacher aktiv. Für das Startstipendium hat er sich mit dem Dokumentarfilmprojekt Critical Mass beworben, in dem er seine Schwester, die als Wanderschäferin arbeitet, porträtieren möchte. Für das Vorhaben erhielt Leonhard 2021 nicht nur das BMKÖS-Startstipendium, sondern auch das Film-Jahresstipendium des Landes Salzburg.
Worum geht es in deinem Dokumentarfilmprojekt mit dem Arbeitstitel Critical Mass, mit dem du dich für das Startstipendium beworben hast?
Leonhard Pill: Es geht um den gegenseitigen Blick dreier Geschwister aufeinander. Eine meiner beiden Schwestern hat sich für eine Herde Schafe auf dem Land und die soziale Isolation entschieden. Meine andere Schwester ist Stadtplanerin und lebt wie ich in Wien. Wir finden es spannend, dass sich unsere Schäferinnenschwester in dem rauen, männlich dominierten Metier der Landwirtschaft durchsetzt und so unbeirrt ihr Ding macht. Doch sie selbst sieht das gar nicht so und steht unserem „urbanen mindset“ kritisch gegenüber. Sie bezeichnet sich selbst als Schäfer und rollt nur mit den Augen, wenn wir ihr mit Genderpolitik kommen.
Du hast schon mit dem Kurzdokumentarfilm Inđija (2020, 20 min) einen Teil einer Familiengeschichte behandelt: die deiner Großeltern, die als Donauschwaben nach Österreich vertrieben wurden. Jetzt willst du deine Schwester porträtieren. Bei „Familienfilmen“ stellt sich die Frage nach Distanz und Nähe und inwieweit man die Funktion des Familienmitglieds von der des Filmemachers trennen kann (oder überhaupt sollte). Siehst du darin eher künstlerisches Potenzial oder Dilemma? Wie gehst du das an?
Ich sehe ein großes Potenzial darin, Familie, sozusagen als kleinste soziale Einheit, filmisch zu untersuchen. Gerade, weil es nicht möglich ist, auf Distanz zu gehen, und das eine gewisse Spannung mit sich bringt. Natürlich kann ich dabei nur subjektiv vorgehen, und die eigene Position muss in irgendeiner Form mitverhandelt werden.
Critical Mass soll dein erster langer Dokumentarfilm werden. In welchem Stadium befindet sich das Projekt derzeit und was glaubst du, wird in den nächsten Schritten die größte Herausforderung?
Der Film befindet sich in der Stoffentwicklung. Dank der Stipendien war bzw. ist es mir möglich, das Projekt gut zu recherchieren und am Konzept zu feilen. In der nächsten Zeit gilt es bestimmte Fragestellungen zu klären, zum Beispiel: In welches Ausmaß wird unser Leben in der Stadt Teil des Films? Außerdem will ich mich auf die Suche nach Leuten machen, die mich dabei unterstützen, eine geeignete Dramaturgie für den Film zu entwickeln.
Dein Lebenslauf liest sich sehr bunt: Du warst Rikschafahrer in Salzburg, stellvertretender Geschäftsführer einer antiquarischen Buchhandlung oder bist persönlicher Assistent für Menschen mit Behinderung. Als Musiker spielst du Progressive Death Metal bis Noise, deine Filmarbeiten sind ebenso vielfältig wie ihre Titel: Funkeln oder die letzte Knackwurst (Kurzspielfilm, 2016, 6 min) oder adapt, resist, accelerate (Experimentalfilm, 2021, 10 min). Was interessiert dich, als Mensch und als Künstler?
Ich habe eine Vorliebe für Fehler, Uneindeutigkeiten, Befremdliches, Verschrobenes, Verzerrtes. Womit wir beim Death Metal wären. Ich glaube vieles, das ich tue, ist eine Anknüpfung oder Fortführung dessen, was ich zuvor gemacht habe – so ist beispielsweise Noise für mich nur eine logische Konsequenz der Zeit als Metal-Head. Die Fusion von Fotografie, Musik und Geräuschen hat mich dann zum Film geführt.
Leonhard zum Foto: „Derzeit fallen mir viele Plakate oder Werbungen mit Slogans wie ‘Du schaffst das’, ‘Wichtig ist, dass deine Leistung stimmt’ oder ‘Go big’ auf. Appelle, sich ins Zeug zu legen, ‘postpandemisch’ noch mehr zu leisten, sich nach oben zu orientieren. Ich frage mich, wohin es führt, wenn eine Konkurrenzgesellschaft zu noch mehr kompetitiven Verhalten ermutigt wird? In die nächste Pandemie? Zu Einzelkämpfer*innen, die nur der Blick nach oben eint?“ © Leonhard Pill
Du bist studierter Psychologe. Hast du das Gefühl, die Auseinandersetzung mit diesem Fachbereich beeinflusst(e) auch deine künstlerische Arbeit?
Unbedingt! Ich würde sogar sagen, dass ich noch immer als Psychologe arbeite, aber mit anderen Mitteln als meine Kolleg*innen das tun [lacht]. Ich glaube in meiner künstlerischen Arbeit geht es immer wieder um soziale Kohäsion, (Ver-)Bindungen oder menschliche Unzulänglichkeiten. Das sind ja durchaus auch Themen der Psychologie.
Vor Jahren, bei einem Cinema Next Breakfast Club bei der Diagonale in Graz, hast du uns mal erzählt, du planst, einen Westernfilm zu drehen. Zwei Fragen drängen sich uns da auf: Was ist aus dem Western geworden?! Und: Gibt es etwas, das du als Filmemacher unbedingt mal realisieren möchtest und das groß auf deiner Film-Wunschliste steht?
Gemeinsam mit einem Freund, ein ganz toller Autor und Cutter, haben wir eine erste Drehbuchfassung entwickelt. Ich glaube die Charaktere des Buchs haben großes Potenzial, allerdings benötigt es weitere Arbeit und momentan haben andere Projekte Vorrang. Es gibt viele Dinge, die ich gerne noch realisieren will, und diese Idee ist sicherlich eine davon. In welcher Form ich sie umsetzen werde, ist aber noch offen.