Rock ‘n’ Roll
„Viele sagen, ich sei zäh und hart im Nehmen“ – auch wenn die sensible, humorvolle und nur zarte 1,60m große Kamerafrau nicht den Anschein von Härte erwecken mag, weiß man bereits nach wenigen Gesprächsminuten mit Anna Hawliczek, dass sie nicht nur voller Tatendrang steckt, sondern auch extrem ausdauernd ist – jedoch niemals im egoistisch-kompetitiven Sinn. Annas Hartnäckigkeit steht immer im Dienste eines Projekts, vor allem aber im Dienste der Menschen: Für ihr Team und ihre Freunde gibt sie alles.
Ein Musical über einen Baum, exzentrische Rollenspiele wie Kommissar Kugelblitz’ erster Fall und lustige Werbeclips zählen zum unbekannten Frühwerk der 1986 geborenen und im niederösterreichischen Biedermannsdorf aufgewachsenen Kamerafrau. Entstanden sind diese Arbeiten Mitte der 1990er Jahre: Anna war noch im Volksschulalter, als sie vom Vater eine Sony Video-8-Kamera vermacht bekam und anfing, gemeinsam mit Freunden Videos zu drehen.
„Die Video-8-Gurke war ein ständiger Begleiter. Ein schweres, solides Trumm, das man irgendwann nur noch mit Strom betreiben konnte, weil die Akkus kaputt gegangen sind. Alles musste in der Kamera geschnitten werden und die einzige Abspielmöglichkeit war, die Kamera direkt an den Fernseher anzuschließen. Es war bei solchen Projekten schon immer so, dass ich die Kamera gemacht habe. Damals hat eigentlich meine filmische Arbeit begonnen.“
Körpergröße spielt keine Rolle – Annas Dauer-Prop: die Bühnenkiste
Nach der Matura auf dem „Knödelseminar“, wie Anna die berufsorientierte Schule mit Fokus auf Textverarbeitung, Buchhaltung, Marketing, Kochen und Service nennt, studiert sie in Wien Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Publizistik. Noch vor dem Abschluss gründet sie mit einer Schulfreundin eine Firma für Web- und Grafikdesign. Weil sie es „nicht wirklich gut drauf hatten“, besucht sie das Kolleg Multimedia auf der Graphischen und spezialisiert sich auf Fotografie und Video. „Danach wurden unsere Webseiten besser, weil die Fotos ok waren. Wir haben unsere Brötchen verdient, indem wir unter anderem Brötchen fotografiert haben. Die Fotografie hat mir mehr Spaß gemacht als designen und mit Kunden streiten.“
Mit ihrem damaligen Mitbewohner Georg Blume lebt sie ihre Begeisterung fürs filmische Erzählen aus. Sie drehen Teaser für die eigenen WG-Partys und skurrile Kurzfilme. Anna nennt sie „Glanzstücke des Trash“ mit Titeln wie Der brennende Beidl oder Asylant des Grauens. Es entstehen aber auch ernsthafte Projekte: Etwa Annas Bewerbungsfilm, mit dem ihr die Aufnahme in Wolfgang Thalers Klasse für Bildtechnik und Kamera an der Filmakademie gelingt.
Dreharbeiten von Der brennende Beidl, ein „Glanzstück des Trash“ – Georg Blume, in Kleid und High-Heels, flieht vor einem Jäger.
“Es ist schon immer die Kamera gewesen”
Weil die Regieleute viel seltener drehen als die Kameraleute, kam ein Regiestudium nie infrage. Sie sei ein zu ungeduldiger Charakter und es mache sie mürbe, ein Jahr oder länger an einem Projekt zu sitzen. „Die dazu notwenige Ruhe kollidiert mit meinem Bedürfnis nach Action. Es ist schon immer die Kamera gewesen.“ Augenzwinkernd schiebt sie hinterher: „Das erklärt vielleicht, weshalb ich es gerade nicht hinbekomme, meine Bachelor-Arbeit zu schreiben. Aber Faulheit kann man mir nicht vorwerfen.“
Im Gegenteil: Anna klotzt ran, von Anfang an, ständig, hartnäckig, mit bedingungsloser Hingabe und dem ungebrochenen Drang, alles auszuprobieren, jede mögliche Erfahrung mitzunehmen, sich kontinuierlich zu verbessern. Obwohl sie ihr Studium an der Filmakademie noch nicht abgeschlossen hat, kann sie inzwischen von der Kameraarbeit leben. Sie dreht Dokus, Kurzspielfilme, Commercials, Reportagen und Musikvideos. „Ich bin gut beschäftigt, arbeite für mehrere Produktionsfirmen und habe eigentlich jede Woche einen Auftrag.“
Zwei Musikvideos, die Anna für den Musiker ROBB gestaltet hat: Goldmind in Co-Regie mit Marie-Thérèse Zumtobel und Beyond mit dem Regiekollegen Patrick Vollrath.
An Arbeit und Abwechslung hat es ihr nie gemangelt. Vor Selbstausbeutung war sie jedoch auch nie gefeit: Unimäßig hat sie mindestens für zwei Studiengänge assistiert. „Ich hab immer gesagt: Da mach ich mit, und da auch, und da noch, das geht schon. Wenn ich selbst auf Teamsuche war, hat es mich schon immer mal wieder überrascht und auch enttäuscht, dass das nicht jeder so handhabt wie ich.“ Den Spaß an der Sache hat sie dabei aber nie verloren. Man gewinnt eher den Eindruck, dass sie auf die schwierigen, widerständigen oder auch enttäuschenden Momente ihrer Ausbildung mit besonderer Dankbarkeit und Begeisterung zurückblickt.
“Das Theeb-Spielfilmset war eine harte Schule, aber ich hab’s gerockt”
Etwa auf ihre Feuertaufe an einem professionellen Spielfilmset, zu dem Wolfgang Thaler sie als zweite und teilweise erste Kameraassistentin mitgenommen hat: Über 8 Wochen Arbeit in der jordanischen Wüste, Hitze, Leben in Zelten, Kampf gegen den Sand. „Bei Theeb (R: Naji Abu Nowar, 2014, 100 min) haben wir mit zwei Kameras, aber nur einem Kameramann gedreht. Es war nicht nur extrem heiß, sondern auch tough, weil du als Materialassistentin schauen musst, dass das Equipment gut beieinander ist, dass die Filmrollen in Ordnung sind, dass es keine Druckbelichtung, keine Sonneneinstrahlung, keine Verunreinigungen durch Sand gibt. Wenn irgendwas schmutzig wird, dann reibt der Film auf, dann kannst du das Material wegschmeißen. Es war eine harte Schule, aber ich hab’s gerockt. Und Thaler hat mir danach lobend auf die Schulter geklopft – natürlich auf seine wie immer sehr dezente Art. Das war unglaublich wertvoll für mich.“
Desert Brooming beim Dreh von Theeb (2014, R: Naji Abu Notar): Sobald Anna von einem Projekt überzeugt ist, ist sie sich für keine Arbeit zu schade. Wenn es sein muss, kehrt sie sogar die Wüste.
Eindringlich erzählt sie von einer weiteren Grenzerfahrung: Dem mehr improvisierten als durchdachten Dreh der Kurzdoku Iguana Imperialista (2015, 5:30 min), für den sie mit Georg Blume durch Venezuela reiste.
„Wir waren komplett lebensmüde. Caracas ist mittlerweile die gefährlichste Hauptstadt der Welt. Niemand läuft dort mit einer Kamera auf der Straße rum, selbst BBC und CNN filmen heimlich aus dem Auto. Das war uns aber alles gar nicht so bewusst, als wir da hingefahren sind. Es ist ein politischer Film geworden, den ich sehr mag, aber es war eine aufreibende Challenge, alles musste sehr spontan passieren und es gab viele unschöne Situationen: Wir sind in einen bewaffneten Raubüberfall geraten, der Flieger, der vor unserem startete, wurde mitsamt den Passagieren entführt, Georg wurde bei der Ausreise von Militärs gefilzt, in einen Keller geführt und wir haben gebangt, ob er jemals wieder zurückkehrt. Ich würde niemandem empfehlen, dort unvorbereitet hinzufahren.“
Dreharbeiten von Iguana Imperialista (2015, R: Anna Hawliczek und Georg Blume): „Rooftop Refugees: Einer der sehr wenigen Momente in Caracas, in denen wir uns sicher gefühlt haben.“
“Das Traurigste, was ich nach einem Screening hören kann, ist: Schöne Bilder!”
Jasmin Baumgartner, mit der sie zuletzt Unmensch (2016, 26 min) realisiert hat, momentan an einem Drehbuch schreibt und an einer Doku über den Aufstieg und Fall eines Ottakringer Fußballclubs arbeitet, zählt zu Annas treuen Gefährtinnen. „Irgendwann haben wir uns gefunden. Das war ein großes Herz mit viel Flauschi und wir haben ein weibliches Produktionskollektiv gegründet. Wir haben auch einen gemeinsamen Leidensweg hinter uns.“
Den Kurzfilm I See a Darkness (2016, 18 min) bezeichnet Anna als Schlüsselfilm ihrer bisherigen Laufbahn. „Wir haben sehr viel reingesteckt in diesen Film, alles ausprobiert und uns was angetan mit den Locations, haben total übertrieben“, erinnert sie sich: Das Schlosstheater wurde gemietet und ausgeleuchtet, Opernleute haben den Figaro einstudiert, ein Graffiti-Künstler wurde engagiert, Nino aus Wien hat den Soundtrack geschrieben. Es gab eine lange Schnittphase mit zwei Cuttern. Das Feedback zum fertigen Film war dann unterschiedlich: „Wolfgang Thaler zum Beispiel fand Unmensch Rock ‘n’ Roll, während ihm I See a Darkness viel zu brav war. Er separiert die Bilder nie von der Geschichte. Für ihn hat der Film nicht so gut funktioniert. Mir gefällt Darkness optisch besser als Unmensch.“ Beide Filme sind derzeit auf Festivaltour und haben auch schon einige Preise gewonnen.
Inzwischen hat Anna eine dicke Haut entwickelt, was Kritik betrifft. Die Erfahrung hat sie vor allem gelehrt, sich für das Drehbuch Zeit zu nehmen, bevor man sich in die Produktion stürzt. „Man muss einen klaren Blick dafür bekommen, was man machen und erzählen möchte und was dann wirklich wichtig ist. Wenn Stellen schon im Drehbuch schwierig zu verstehen sind, gelingen sie im Film meistens auch nicht. Da muss man unglaublich konkret drauf eingehen und die richtigen Bilder entwickeln. Das Traurigste, was ich nach einem Screening hören kann, ist: Schöne Bilder! Dann funktioniert der Film nämlich nicht.”
Bilder und Vorbilder
Anna lässt sich gerne inspirieren, schaut viele Filme, um die richtigen Moods zu finden, fährt jedes Jahr zum Camerimage nach Polen, um zu sehen, was andere Kameraleute machen. Die Arbeiten von Conrad Hall und Christopher Doyle, Ed Lachman und Gus van Sant schätzt sie besonders: „Da offenbart sich eine sensible Machart, ein Gespür für Farben und Kompositionen, die das richtige Gefühl transportieren. Wenn ich davon rede, hab’ ich schon wieder Bilder im Kopf. Das ist ja was Gutes.“
Mittlerweile findet sie es aber spannender, nicht im selben Medium nachzuahmen, sondern sich etwa bei der Betrachtung von Fotos zu fragen, was daran thematisch oder stilistisch gefällt und wie man das filmisch erzielen kann. „Das schult die Wahrnehmung und erweitert den Horizont. In den ersten Jahren auf der Filmakademie denkt man: Auflicht ist verboten. Als ich die Portraitfotografien von Richard Avedon gesehen habe, der ein Freund von ehrlichem Auflicht ist, hab ich dieses ungeschriebene Gesetz revidiert.“
In die Kurzdoku Randsprünge verboten (2011, 7 min), die Anna im 2. Semester mit Lena Weiss drehte, spielte die Bewunderung für den Stil von Wolfgang Thaler, Ulrich Seidl und auch Michael Glawogger noch sehr stark rein, wie sie selbst sagt. „Ich wollte unbedingt einen Kamerafilm machen, der bestimmte Einstellungen hat: Zentralperspektive, abgeschnittene Torsi, alte Leute, viel Kopfluft. In manchen Situationen ist meine Meinung zu stark durchgedrungen. Das tat mir im Nachhinein leid. Am Anfang orientiert man sich an Vorbildern, irgendwann entfernt man sich wieder. Man muss schon für jeden Film die richtigen Mittel finden, um eine Geschichte zu erzählen.“
Dass es Leute gibt, die ihren Kamerastil inzwischen identifizieren können, freut Anna. Dennoch ist es ihr wichtig, den Stil jeweils projektspezifisch in Kooperation mit der Regie zu variieren. „Es gibt schon bestimmte Winkel, die ich immer wieder wähle, ich schaue gerne Gesichter an. ‚Creamy’ ist vielleicht meins, und Wege habe ich gerne: Nachgehen, sich mit den Menschen zu synchronisieren, die vor einem laufen, dabei den Fokus aber eher auf der Person als auf ihrem Ausblick zu haben. Einige Leute sagen, dass mein Stil mit den Örtlichkeiten zusammenhängt, mit außergewöhnlichen Farbgebungen der Räume. Auch mit der Lichtgestaltung, wenn die Orte neutraler sind. Das kommt aber alles eher von innen heraus als von außen, das ist keine festgeschriebene Stilfrage. Manchmal kann man gar nicht so genau sagen, warum einem das eine gefällt und das andere nicht.“
Rücken und Räume: Still aus dem Kurzfilm I See a Darkness (2016, R: Jasmin Baumgartner)
Anna lässt sich nicht festlegen, überrascht sich gern selbst und liebt neue Herausforderungen: „Ich will mal eine richtig ernstgemeinte Actionszene drehen. Wo man nicht sagt, das ist der sensible Autorenfilm und da geht es um Befindlichkeiten, sondern um eine rasante Autoverfolgung, einen Überfall oder so etwas. Mit aufwendigem Aufbau, Choreografie und Ich-fall-von-der-Brücke-Geschichten. Mit Rigging oder Magic Wires. Daran würde mich die Auflösung, die Technik, die Machart interessieren.“
“An Agenturen-Sets werde ich oft ignoriert … bis ich mein Setup schultere”
Anna präsentiert einen tiefblauen Bluterguss auf ihrer Schulter: „Reportage-Dreh ohne Assistent, ungepolsterte Kamera!“ Über physische Blessuren und Anstrengungen beschwert sie sich aber nicht. Kräftezehrender findet sie den Kampf um Respekt und Vertrauen, dem sie sich immer wieder stellen muss:
„Mir fiel das nie so auf, weil mir von meinen Freunden immer so viel Vertrauen geschenkt wurde. Aber wenn man mit fremden Menschen zusammenarbeitet, muss man immer erst darum kämpfen. Was ich auch verstehe – ich würde weder mit einem Kameramann noch mit einer Kamerafrau zusammenarbeiten, bei dem oder der ich nicht das Gefühl hätte, dass die Kooperation klappen könnte. Wenn du nicht so sehr aus dir rausgehst mit deinen Talenten – was Frauen seltener machen, weil sie irgendwie kritischer mit sich sind –, reagieren alle verhaltener auf dich. Es ist schon eine Hürde, wenn du aufgrund der Größe oder des Geschlechts per se der Underdog bist. Vor allem in Agenturen werde ich am Set oft ignoriert … bis ich mein Setup schultere. Dann kommt die erstaunte Frage: Was, du machst Kamera? Es gibt eigentlich immer jemanden, sei es der Tonmann oder der Videooperator, der meint, es besser zu können, weil er älter, erfahrener und zudem ein Mann ist.“
Weder durch schwere Technik noch durch zweifelnde Männer einzuschüchtern: Das weibliche Produktionskollektiv Jasmin Baumgartner, Anna und Theda Schifferdecker (Tonmeisterin).
Neben Georg Blume und Jasmin Baumgartner arbeitet Anna auch regelmäßig mit Patrick Vollrath zusammen. „Wir haben mit Musikvideos angefangen, dann war ich bei Die Jacke (2014, 9 min) Oberbeleuchterin und bei Alles wird gut (2015, 30 min) habe ich ihn in der Produktion unterstützt. Ich helfe ihm bei den meisten seiner Projekte.“ Mit den Menschen, die sie kennt und mit denen sie sich blind versteht, arbeitet Anna am liebsten. Durch die vielen Werbe- und Musikvideodrehs hat sie inzwischen ein festes Team aufgestellt, dem sie vertraut. „Harmonie am Set ist so wichtig. Man kann Diskrepanzen in der Vorstellung von etwas haben, aber es darf nicht passieren, dass man anfängt darüber zu diskutieren, wie man jetzt den Film überhaupt macht. Dann verliert man den gegenseitigen Respekt.“
Obwohl Anna sich über jeden vielversprechenden Auftrag freut, haben ihr Eifer und ihre Kompromissbereitschaft auch Grenzen: „Mit Leuten, mit deren Arbeit ich überhaupt nichts anfangen kann, arbeite ich auch nicht zusammen. Ich bin ja auch irgendwo eine Feministin, und wenn dann ein Kunde daherkommt und möchte, dass die Moderatorin, die ein Fliesen-Produkt präsentieren soll, auf dem Boden kriecht, damit man in ihren Ausschnitt filmen kann, dann hab’ ich Probleme damit. Ich hab’ mit ihm zu streiten begonnen und bin aus dem Spot ausgestiegen.“
Anna arbeitet am liebsten mit der Kamera. Wie ihre Werkliste verrät, übernimmt sie aber auch andere Funktionen im Team – vor allem, wenn es sich um wichtige Projekte von Freunden handelt.
„Es gibt Intuition und es gibt Technik, die man erlernen kann. Und beides spielt zusammen. Die richtige Intention ist aber auch entscheidend.“ Wenn Anna hinter einem Projekt steht, wächst sie über sich hinaus, ohne sich selbst zu wichtig zu nehmen. Im Vordergrund steht immer die menschliche Komponente, die funktionierende Symbiose mit dem Team, mit dem sie an einem gemeinsamen Strang zieht. „Ich finde, es ist ein wahnsinnig schöner Beruf, der die Möglichkeit bietet, mit vielen Leuten zusammenzuarbeiten, viele Ansichten kennenzulernen, sich mit Menschen zu beschäftigen, empathisch zu sein. Und in gewissen Fällen kann man mit der Arbeit was Gutes tun.“