Andere Leben
„Filmarbeit bietet die Möglichkeit, andere Länder zu sehen und Menschen kennenzulernen. Ich würde mich langweilen, wenn ich jeden Tag an die gleiche Stelle gehen und dasselbe machen müsste“, sagt Carolina Steinbrecher. Realitätsflucht kann man ihr allerdings nicht vorwerfen: Seit Jahren arbeitet sie vorwiegend im Dokumentarfilm – ihr Unterwegssein gründet auf beharrlichem Interesse an der Wirklichkeit, am Leben, an Menschen. In ihrem Zugang zur Welt offenbart sich nicht nur beachtliches Verantwortungsbewusstsein, sondern auch außergewöhnliche Feinfühligkeit. Dass Film nicht immer mit Eskapismus einhergeht, spiegelt sich auch in der Auswahl ihrer Stoffe: Diese ‚anderen Leben’ erzählen von Langeweile, Ersatzheimaten, Einsamkeit, Identitätskrisen und der existenziellen Frage nach dem Wohin.
Carolina Steinbrecher, 1987 in Wien geboren, hat sich schon früh mit Kunst, Malerei und Fotografie beschäftigt. „Bilder haben mich schon immer fasziniert. Aber manchmal weiß man gar nicht, wie man dort, wo man jetzt ist, überhaupt hingekommen ist. Es war wohl der klassische Weg“: Vom Kontakt mit Leuten, die sich für Film interessierten oder selbst Filme machten, über erste Drehversuche mit ambitionierten Kommilitonen aus der Theater-, Film- und Medienwissenschaft bis zum eigenen Abschlussfilm im Kolleg Multimedia an der Graphischen Wien. „Wir haben zwar alles zusammen und jeder irgendwie alles gemacht, aber es war schnell klar, dass ich die Kamera übernehme. Es hat sich immer deutlicher herauskristallisiert: Ich will Filme machen – ich will das Bild machen.“
„Ich zieh’ mich als Person schon zurück hinter der Kamera, aber ich will auch nicht unsichtbar sein. Es wäre auch sinnlos, das überhaupt zu versuchen: Die Präsenz der Kamera kann man ohnehin nicht ausblenden. Also werde ich zum Kamera-Mensch.“
Seit 2010 studiert Carolina zunächst bei Christian Berger, danach in Wolfgang Thalers Klasse Bildtechnik und Kamera. Sie gesteht, dass es erst beim dritten Bewerbungsversuch an der Filmakademie klappte: Schon mit 17 Jahren hatte sie sich einmal für Regie beworben, ist aber, wie sie sagt, kläglich gescheitert. „Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich in die Regie wollte. Ich schätze, weil man mit 17 keine anderen Departments kennt.“ Beim zweiten Mal sollte es die Kamera sein: Carolina dreht einen Super-8-Film, bekommt einen Tag vor Bewerbungsschluss das entwickelte Material zurück – nichts drauf. „Ich hatte mich total verkalkuliert und dann einen Film zu wenig. Ich bin natürlich nicht genommen worden. Ich hab’ mich im nächsten Jahr wieder beworben. Dann hat’s geklappt.“
“Von anderen lernt man am meisten”
Mit 22 kommt sie an die Filmakademie: Der Jüngste in ihrer Klasse ist 19, der Älteste 28. Einige haben bereits Set-Erfahrung, andere nicht. Carolina muss viel aufholen, inzwischen aber hat sie das Gefühl, dass alle auf der gleichen Ebene angekommen sind. „Je länger man dort ist, desto kleiner werden diese Gräben. Die Anfangszeit ist auch wahnsinnig intensiv. Es ist eine eigene Welt, in die man eintaucht. Aber da taucht man dann auch wieder raus. Es war toll, man hat so unglaublich viel voneinander gelernt. Von anderen lernt man am meisten.“
Zuletzt durfte sie Wolfgang Thaler beim Dreh von Chucks (2015, R: Sabine Hiebler und Gerhard Ertl, 93 min) und Vor der Morgenröte (2016, R: Maria Schrader, 106 min) als Kameraassistentin zur Seite stehen. „Es bringt einen extrem weiter, solche Erfahrungen zu machen. Ich konnte wahnsinnig viel beobachten, besonders in der Drehphase, in der ich Videooperator war. Der Job gilt ja nicht gerade als der dankbarste, aber ich finde ihn sehr spannend, weil du immer siehst, was die Kamera macht.“
Auch wenn sie es „cheesy“ findet, ihren Dozenten als Vorbild zu nennen, muss sie zugeben: „Klar, ich studiere bei ihm, aber Wolfgangs Handwerk hab’ ich schon vorher bewundert. Vorbild klingt jedoch, als würde ich es gleich machen wollen. Ich würde sagen, es gibt Einflüsse und Inspirationen.“
In ihrer Freizeit sucht sie Anregungen aus allen Richtungen, schaut viele Filme, besucht Festivals und Ausstellungen, um in wichtigen Momenten die richtigen Einfälle zu haben. Für sie muss ein gutes Bild viel erzählen: Nicht nur durch die Wahl des abgebildeten Gegenstands oder der abgebildeten Person, sondern auch durch die Wahl des Objektivs, durch die Kadrierung, die Ausleuchtung und Farbkomposition, nicht zuletzt durch die Entscheidung, im richtigen Augenblick den Auslöser zu drücken.
„Gestern war ich in einer Ausstellung von Martin Parr. Ein englischer Dokumentarfotograf, der mir sehr nah ist, der mit unglaublich viel Humor erzählt. Die Grenze zum Voyeurismus, der Kamera- und Filmleuten ja immer wieder vorgeworfen wird, ist fließend. Er stellt die Menschen schon irgendwie aus, aber dennoch auf eine Art, die ok ist.“
Die Suche nach Bildlösungen
Bildgestaltung und dokumentarische Arbeit sind für Carolina kein Widerspruch. „Dokus funktionieren zwar anders als Spielfilme, auch visuell, das heißt aber nicht, dass die Bilder nicht komponiert sind – Dokumentarfilm ist nicht bloß abgefilmte Realität. Ein gutes Beispiel für herausragende Kameraarbeit im Dokumentarfilmbereich ist für mich Nikolaus Geyrhalter: Er ist bemerkenswert in seinem Stil und seiner Stringenz. In seinen Bildern steckt auch ein gewisser Humor, wie er etwa die Maschinen in Donauspital filmt oder Menschen in einer Gruppe. Er zeigt, dass eben auch eine ganz andere Art von Dokumentarfilm möglich ist.“
Was den Bildstil oder den Einsatz von bestimmten Techniken betrifft, hat Carolina Vorlieben. Dennoch hebt sie hervor, wie wichtig es, sich auf jedes Projekt mit frischem Kopf und ohne vorgefertigte Schablonen einlassen zu können. „Man sollte immer die Bildsprache finden und verwenden, die die Geschichte braucht und nicht die, die man ohnehin schon hat.“ Es sind die visuellen Übersetzungen eines Drehbuchs, die sie reizen, die Suche nach Bildlösungen.
Stills aus Rast (in Postproduktion, 55 min, R: Iris Blauensteiner): Visuelle Übersetzungen finden – Stasis und Einsamkeit an Transitorten.
„Manche Regisseure wissen, dass eine Fahrt bei einem Meter anfängt und bei drei Metern aufhört. Aber es gibt auch welche, die erst vor Ort nach Lösungen suchen. Ich finde beides spannend.“ Bei Rast (in Postproduktion, 55 min, R: Iris Blauensteiner) waren Regie und Kamera sich schnell einig, dass es einen kontinuierlichen klaren und strengen Bildstil geben wird: Vorgegeben auch durch die Räume, die Linien der LKW und den Stillstand der Fahrzeuge. Es wurde fast ausschließlich vom Stativ gedreht. „Wir wussten zwar nicht, was passieren wird, aber es war klar, dass alles am Platz passieren wird.“
Bei Wolkenkratzerin, der Doku, an der Carolina aktuell mit Lisa Weber arbeitet, wird mehr Improvisationskunst abverlangt: „Hier weiß nicht einmal die Protagonistin selbst, was am nächsten Tag passieren wird. Die sind alle sehr sprunghaft.“ Will man sich am Set voll und ganz auf die Situation einlassen können, muss im Vorfeld besprochen werden, wie der Film aussehen soll. „Nur dann kann man sich darauf verlassen, auch wirklich die Bilder suchen und finden zu können, die der Regie gefallen und die die Geschichte braucht.“
Beim Spielfilm schätzt Carolina vor allem jene Regisseure, die eine klare visuelle Vorstellung haben und dennoch flexibel genug sind, um auf der Suche nach der besten Einstellung umdenken zu können. Bei der Dokumentarfilm-Regie legt sie besonderen Wert auf den Umgang mit den Menschen vor der Kamera: Ihnen muss ein Raum geschaffen werden, in dem sie sich aufgehoben fühlen, gleichzeitig muss die Regie wissen, wie sie von den Protagonisten das bekommt, was sie will. „Aber das Allerwichtigste ist Respekt: Respekt vor den Darstellern und Respekt vor den Teammitgliedern.“
“Man muss darauf bedacht sein, wie man jemanden erzählt”
Im Zwischenmenschlichen stellt Carolina vor allem hohe Ansprüche an sich selbst. „Ich fühle mich zwar hinter der Kamera am wohlsten, aber man muss schon wissen, wie es sich anfühlt, davor zu stehen. Nur dann weiß man, wie sensibel man vorgehen, wie behutsam man mit Menschen umgehen muss – egal ob es ein Schauspieler ist oder ein Laie. Gerade wenn es viel um Positionen und Licht geht, vergisst man manchmal, dass da ein Mensch steht. Da bringt die beste Kamera nichts, wenn du dem Schauspieler die Freiheit und den Raum nimmst und die Geschichte nicht erzählt werden kann.“
„Vor allem im Dokumentarfilm ist Vertrauen sehr wichtig, man muss sich kennenlernen. Nur so funktioniert’s. Man kann nicht einfach irgendwo reinpreschen und mit der Kamera draufhalten. Als Kameramensch muss man sich stets darüber im Klaren sein, dass die Art, wie man dreht, eine Aussage transportiert. Man muss darauf bedacht sein, wie man jemanden erzählt.“
„Es ist schon bemerkenswert, wie viel mehr Budget, Liebe und Können Hollywood in die Ausstattung investiert. Natürlich haben auch andere verstanden, wie wichtig das ist. Aber im österreichischen Film hast du auch oft nur eine weiße Wand.“ Personen, die einfach in die Kamera sprechen, sind Carolina meist zu langweilig. Die Geschichte muss immer auch über den Raum erzählt werden, weil Räume sehr viel über ihre Bewohner verraten, Gegenstände oftmals eher die Wahrheit sprechen als die Person, die sich vor die Kamera stellt und sich in ein gewisses Licht zu rücken versucht. Wenn Carolina Zutritt in private Räume bekommt, wie etwa in die Kabinen der LKW-Fahrer in Rast oder in die Wohnung der Familie, bei der sie gerade Wolkenkratzerin dreht, ist sie immer wieder begeistert: „Die besten Ausstatter könnten das manchmal nicht so gut ausstatten, wie es das echte Leben kann.“
Still aus Schwitzen (2014, 30 min, R: Iris Blauensteiner): Räume und Gegenstände erzählen oft mehr als sprechende Personen.
Die erste Kollaboration mit Iris Blauensteiner beim Kurzfilm Schwitzen (2014, 30 min) hat nicht zuletzt wegen der großartigen Vorbereitung einen so positiven Eindruck bei Carolina hinterlassen: „Wir haben viel über die Geschichte gesprochen, viele Moods gesammelt und die Locations gemeinsam besichtigt.“ Auch durch intensiven Austausch mit der Ausstatterin kam sie auf ihre Kosten: „Es ist toll, wenn man bei der Ausstattung mitreden kann, weil die Farbe der Wand oder die Wahl der Stoffe im Bild ja genauso mitspielen wie Licht oder Schauspieler.“
Bei den Dreharbeiten musste Carolina häufiger ins kalte Wasser springen, weil sie sich mit unvertrauten Settings und neuen Herausforderungen konfrontiert sah: „Du wirst immer an einen Punkt kommen, wo du dir denkst: Ich hab das noch nie gemacht, aber: entweder es haut hin oder es haut halt nicht hin. Ich bin gerne gesprungen.“
Bei den Dreharbeiten zu Schwitzen, ein Sprung ins kalte Wasser: „Zum ersten Mal drehte ich nachts im Freien und musste einen dunklen Wald ausleuchten.“
Nach Schwitzen (2014, 30 min, R: Iris Blauensteiner) hat Carolina ausschließlich Dokumentarfilme gedreht:
Für Gatos de Luz (2014, 15 min/3 min) filmte sie mit Lena Weiss in den Favelas von Rio de Janeiro die gefährliche Arbeit der sogenannten Gatos de Luz. „Es war spannend, in einer völlig fremden Umgebung zu sein. Glücklicherweise war die Gegend friedlich und die Bereitschaft mitzumachen bei den angesprochenen Leuten groß. Eine actionreiche Erfahrung. Wir hatten aber oft Angst, dass die Protagonisten beim Stromanzapfen einen Schlag bekommen könnten.“
Für Schwerelos (2015, 9 min), Jannis Lenz’ Kurzdoku über Parcoursläufer, die aus dem Material verschiedener Kameraleute montiert ist, begibt sich Carolina in die Betonwüsten der Großstadt.
Für Rast verbringt sie einen Sommer mit Iris Blauensteiner und einem Tonmann auf einem Campingplatz und einer Raststätte, um Camper und LKW-Fahrer in ihrem Ersatzzuhause zu portraitieren.
Dass sie momentan an einer Doku mit Lisa Weber arbeitet, empfindet sie als Bereicherung: „Ich wusste, das ist meine Welt: Die Stoffe, die Lisa interessieren, interessieren mich, die Art, wie sie Menschen sieht, interessiert mich, die Art, wie sie Filme macht, mag ich.“
Die vielen dokumentarischen Arbeiten waren für Carolina eine gute Schule, um intuitiv auf Situationen reagieren zu können und auch mit begrenzten Mitteln die richtigen Bilder zu erzielen. „Durch Dokumentarfilm lernt man, mit wenig viel zu machen: Man lernt, wie wichtig die Positionierung der Kamera ist und man versteht, dass der Mensch vor der Kamera das Ausschlaggebende ist. Wenn man sich das für den Spielfilm behält, ist das unsagbar förderlich für die Arbeit.“
Und: „Man lernt geduldig zu sein, auf den richtigen Moment zu warten. Manchmal wird man dann belohnt.“ Eine weitere Charaktereigenschaft, die sie durch die Dokus erworben hat, ist der Verzicht auf Bildeitelkeiten: die eigene Arbeit wird nicht wichtiger genommen als die der anderen.
Dass man aus wenig durchaus viel machen kann, zeigt sich auch im minimalistischen Musikvideo zu We Climb von thebigempty, das Carolina 2013 mit Manuel Johns realisierte:
Auch wenn sich Carolina momentan eher im Dokumentarfilm beheimatet sieht, möchte sie sich nicht auf Dokus festlegen: „Ich bin zwar im Improvisieren besser als im Planen, aber ich hätte gerne mal die Möglichkeit, visuell etwas von A bis Z durchzukomponieren: einmal etwas ganz Gestelltes, visueller Wahnsinn. Wirklich präzise arbeiten zu können, geht durch Budget- und Zeitmangel of verloren.“
“Es ist einfältig von vornherein auszuschließen, dass Frauen das können”
Das Studium an der Filmakademie sieht sie als Vorteil für ihr Berufsleben, weil den Absolventen grundsätzlich erst mal mehr zugetraut wird als den Autodidakten. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich das alles gemacht hätte, wenn ich nicht auf der Filmakademie gelandet wäre. Hier kann man sich ein Netz aufbauen. Egal ob Mann oder Frau: Du brauchst die Menschen, die dich mitziehen, anders schaffst du es nicht.“
Dass geschlechterunterschiede in diesem Berufsfeld eine Rolle spielen, will Carolina nicht runterspielen, dennoch hat sie die Hoffnung, dass sich dieses Thema auflösen wird: „Es ist ein bisschen einfältig von vornherein auszuschließen, dass Frauen das können. Es gibt in der Branche sehr gute Gegenbeispiele, die man anführen kann: Frauen, die ganze Filme mit der Handkamera machen – Filme, die top aussehen.“
Frau-Sein hat sie jedenfalls noch nie als Nachteil empfunden. Eher hat sie das Gefühl, dass die Leute sich Frauen bereitwilliger öffnen. Dass das manchmal auch daran liegen könnte, dass sie nicht ganz ernst genommen werden, schiebt sie lachend hinterher: „Mit den LKW-Fahrern kamen wir recht leicht ins Gespräch, sie waren positiv eingestellt, als zwei Frauen auf sie zukamen, sagen wir mal so. Ich hab’ zwei der Männer bei einem Skypegespräch gefilmt und mich gefreut, dass sie so angeregt miteinander reden. Ich hab’ natürlich kein Wort verstanden und erst in der Übersetzung kapiert, dass sie die ganze Zeit schweinische Sachen gesagt haben. So kann’s halt auch kommen.“
Set-Foto von Rast: Zwei Frauen und ein Männerberuf.
Schwitzen hat sie durch die häufige Handkamera regelrecht zum Schwitzen gebracht. Doku-Drehs zehren kräftemäßig an ihr, weil sie die Kamera ständig mit sich herumträgt. Doch Carolina beschwert sich nicht, im Gegenteil: Sie liebt ihren Beruf und will ihn noch lange ausüben: „Ohne Frage, es geht auf den Körper und man sollte mehr auf seinen Körper achten. Aber im Moment geht’s noch – reden wir in 30 Jahren nochmal drüber!“