Johannes Gierlinger ist Filmemacher und Künstler. Dieser Text wurde als 5-Minuten-Intervention beim Cinema Next Breakfast Club – Breakfast #2: Cinema Futures. Das Analoge und Digitale in der Gegenwart – auf der Diagonale 2017 vorgetragen.
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Meine filmische Arbeit ist gekoppelt mit der Lust am Beobachten und dem Flanieren. Es ist die Art des Sehens und die Wahrnehmung von Raum und Mensch, die der Geste des Flaneurs am nächsten kommt. Man könnte sagen: Ich bin ein Flaneur mit Kamera.
Zwei Textpassagen beschreiben vielleicht näher, was gemeint ist:
Nooteboom schreibt in einem Essay über den Flaneur: „Flaneure sind Künstler, auch wenn sie nicht schreiben. Sie sind zuständig für die Instandhaltung der Erinnerung, sie sind die Registrierer des Verschwindens, […] sie sind das Auge, das Protokoll, die Erinnerung, das Urteil und das Archiv, im Flaneur wird sich die Stadt ihrer selbst bewußt.“
Ebenso verweist er auf Walter Benjamin: „[I]n seinen Sohlen, so Walter Benjamin, stecken ihre Erinnerungen, die Dinge, die jeder bereits vergessen hat, weil sie einem nichts nützen. Er ist der ganz und gar unnütze und zugleich ganz und gar unentbehrliche Passant, seine Arbeit besteht aus dem, was andere versäumen.“
In dieser teilweise voyeuristischen Haltung gibt es diese flüchtigen Momente, die man festhält und die man vermutlich auch digital festhalten kann, für mich aber vor allem mit Dauer und Zeit gekoppelt sind, und diese Dauer und Zeit haben mit analogem Film zu tun.
Indem mir das Filmmaterial eine gewisse Länge vorgibt, entsteht ein anderes Bewusstsein für die Zeit und den Raum. Zusätzlich kommt die Dauer ins Spiel. Es ist eine gegenseitige Ergänzung und Nutzung dieser Komponenten. Die Entschleunigung in einer beschleunigten Zeit.
Dabei sind es Parameter, die vielleicht an die Beschreibungen von Zeit und Freiheit von Henry Bergson erinnern. Bei Bergson ist Zeit ein hybrides Gebilde aus Dauer und Raum. Wobei wir Zeit eher räumlich empfinden und unser Bewusstsein dieser etwas entgegen bringt: die Dauer. Wir haben die Kamera und das Material, die beide zusammen so etwas wie ein Bewusstsein wecken und eine Dauer über das Bewusstsein legen.
Bergson denkt Raum ähnlich einzelner Schnappschüsse, einzeln bebildert. Für mich erzeugt das Filmen ein Bewusstsein, das dauert. Bilder werden zum laufen gebracht, gleichzeitig werden mehrere Bilder überdauert, die später vielleicht zusammenfinden und ineinander übergehen. Das ist, was für mich das Festhalten auf einem Filmstreifen ist. Die Dauer steht im Zustand des Filmens über den Dingen und ist der Zeit fremd. Es erzeugt Freiheit.
Zusammengefasst hat Filmmaterial für mich somit eine Bedeutung, die mit Bewusstsein, Dauer und Zeit gekoppelt ist, und keine, die nur dem physischen Material zugetan ist. Filmmaterial ohne Filmmaterialfetisch. Filmmaterial ohne Nostalgie. Ein zukünftiges Arbeiten aus der Verbindung digitaler und analoger Medien. Das Filmemachen als Verlangsamung einer akzelerierten Realität.
Am Ende möchte ich noch ein Anliegen anbringen:
Es gibt kein Filmlabor mehr in Wien. Die letzten Jahre zeigen, dass kaum noch auf Film gedreht wird. Viele Kameramenschen haben das Material schon recht früh mit dem Markteintritt einer (roten) digitalen Filmkamera aufgegeben. Ein Labor oder wie es zurzeit heißen soll: ein „Preservation Center“ macht somit nur Sinn, wenn entweder wieder mehr auf Film produziert wird (wie kann man die Filmlandschaft dafür motivieren?) und/oder es die Aufgabe wird, digital produzierte Filme auf Film umzukopieren und zu archivieren.
Ein weiterer Schritt wäre, das Labor international zu positionieren. Wobei hier die Frage aufkommt, wie viele Labore braucht Europa heutzutage wirklich noch? Bologna, Lissabon, Budapest sind exzellente Labore, um nur einige zu nennen.
Weiters sollte man darüber nachdenken, ob das Preservation Center nicht unabhängig agieren sollte, schon alleine deshalb, damit es nicht Teil der Fehde zwischen gewissen Institutionen wird. Gleichzeitig sollte man auch andere Modelle, kombinierte Modelle, internationale Kooperationen, auch über ein Digitales Labor nachdenken, um sich wirklich zu positionieren.