„Eigentlich sind wir nur Diebe“
Filmische Vorbilder hat die Regisseurin und Drehbuchautorin Clara Stern keine: Für ihre Geschichten bedient sie sich an der Realität, verarbeitet eigene Erfahrungen oder klaut aus den Biografien anderer. Ihre Filme beschreiben individuelle Situationen, die viel über die Gesellschaft um uns herum erzählen – über Geschlechterrollen und das Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Mit ihrem Transgenderfilm MATHIAS legt sie derzeit eine beachtliche Festivalkarriere hin.
Einen Traum hat die 1987 in Wien geborene Clara Stern: Irgendwann einen Kinderfilm zu machen. Das Schöne daran sei, dass man sehr poetisch erzählen könne, man aber eine klare Geschichte habe. „Ich würde gerne von Heldinnen erzählen. Ich habe Ronja Räubertochter vergöttert, aber es gibt halt auch nicht sehr viel anderes.“
Schon während ihrer Schulzeit schrieb Clara Kurzgeschichten. Mit 18 Jahren drehte sie mit einem gecrackten Schnittprogramm vom Bruder und der Kamera aus dem Büro ihres Vaters ihren ersten Kurzfilm – ein Musikvideo zu Europa neurotisch von Stereo Total. Sie zeigte es bei den video&filmtagen Wien, wo sie heute moderiert, und bekam positives Feedback. Auch während ihres Europäischen Freiwilligendienstes, bei dem sie in Schweden Medienprojekte mit Jugendlichen realisierte, stellte sie fest, dass ihr das Erzählen mit Bildern lag und Spaß machte.
Parallel zu ihrem Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft bewarb sich Clara 2009 für den Studiengang Drehbuch an der Filmakademie – wo sie derzeit ihren Master macht – und ist mittlerweile eine routinierte Drehbuchschreiberin: Die BKA-Stipendiatin gewann 2016 den Carl-Mayer-Drehbuchpreis der Stadt Graz und war im selben Jahr Preisträgerin des Drehbuchwettbewerbs IF SHE CAN SEE IT SHE CAN BE IT des Drehbuchforums Wien und des Österreichischen Filminstituts. „Was ich am Drehbuchschreiben liebe, ist, dass ich Menschen erfinde, die real sein könnten. Ich beschäftige mich sehr viel mit Psychologie und überlege, wie die Figur reagieren würde und warum.“
Clara Stern mit Matthias Writze im Schnittraum.
2011 bewarb sich Stern zusätzlich für den Studiengang Regie. „Ich habe gemerkt, dass mir die Arbeit am Set unheimlich viel Spaß macht, und mich gefragt, ob ich mich vielleicht zuerst für Drehbuch beworben habe, weil ich ein bisschen feig war. Es war für mich anfangs leichter, allein an Texten zu sitzen, als rauszugehen und Filme zu drehen.“ Die Zusammenarbeit am Set und die Schauspielführung betont sie als entscheidende Pfeiler ihrer Arbeit: „Für mich gibt es beim Dreh eine Kommunikations-, aber keine Menschenhierarchie. Alle sind gleich viel Wert. Als Regisseurin liegt es bei mir zu entscheiden, was ich drehe und was nicht. Welches Team ich habe, entscheidet aber darüber, wie gut ich sein kann.“
Figuren erfinden, die real sein könnten
In den letzten sieben Jahren hat Clara fast jedes Jahr ein bis zwei Kurzspiel- und/oder Dokumentarfilme gedreht, bei denen sie die Drehbücher immer selbst (mit-)schrieb. Ihre Stoffe stammen teilweise aus der eigenen Biografie, manchmal sind es aber auch Dinge, die sie ärgern oder über die sie viel nachdenkt.
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Wartezeit, den sie 2016 realisierte, beruht auf einem Erlebnis der Regisseurin, das sie mit 19 Jahren hatte. Der Film über eine junge Frau, die beim Warten auf den letzten Bus von einem Fremden begehrlich und bedrohlich angestarrt wird, woraufhin sie ein Telefongespräch erfindet, weil ihr Akku leer ist, ist Claras persönliche #metoo-Erfahrung. „Wir leben in einer der sichersten Städte der Welt. Aber diese kurze Szene erzählt viel über das Verhältnis zwischen Männern, Frauen und den Geschlechterrollen“, sagt sie.
Still aus Wartezeit (AT 2016, 11 min): Anna (Clara Diemling) muss unangenehm lange auf den Bus warten.
Auch ihr Kurzfilm Manchmal bin ich ein Krieger, sagt meine Freundin (2012), in dem eine junge Frau mit der Diagnose konfrontiert wird, dass ein Knoten an ihrer Schilddrüse bösartig sein könnte, hat einen persönlichen Hintergrund. Die Hauptfigur ist ratlos und verwirrt angesichts des Gutachtens, in dem von einer „Sanierung“ die Rede ist. „Das ist mein eigener Befund gewesen, ich bin mir so komisch hilflos vorgekommen“, erzählt Clara.
In Die Inseln, die wir sind (2011) fährt die Protagonistin Anna spontan ihre Freundin Liza in Amsterdam besuchen, um herauszufinden, ob die beiden mehr als Freundschaft verbindet. Auch dieser Film erzählt von einer individuellen Begebenheit, bei der die Grenzen zwischen homosexueller Liebe und Freundschaft ausgelotet werden.
Ihre Arbeitsweise für die beiden dokumentarischen Kurzfilme Leuchtkraft (2015) über Neonschriften und alte Wiener Geschäfte sowie Im Jahre Schnee (2013), in dem ein Dorf im Schnee versinkt, beschreibt Clara als „distanziertes Beobachten“. Auch wenn sie momentan eher dem Spielfilm zugeneigt ist, findet sie, dass es immer darauf ankommt, die richtige Form für das jeweilige Thema zu finden. „Mit einem Dokumentarfilm kann man vielleicht manchmal etwas erzählen, was in einem Spielfilm zu artifiziell und aufgesetzt wäre.“
Leuchtkraft (R: Clara Stern und Johannes Höß, AT 2015, 4 min):
Mittagspause in der Lagerhalle einer Firma: Mathias und Emir sitzen auf einer Treppe und essen ihre belegten Semmeln. Der bärtige Emir, der gern mit Nacktfotos seiner Freundin prahlt und sich einen 3er-BMW wünscht, wechselt seine Sitzposition. Nun sitzt er breitbeinig da, beide Füße auf unterschiedlich hohen Stufen, die Unterarme lässig auf die Oberschenkel gestützt. Der schmächtige Mathias mustert Emir einen Augenblick und ahmt sofort die Körperhaltung des Kollegen nach. Er kopiert die deutlich mehr Raum beanspruchende Sitzposition, die ihn größer erscheinen lässt und als männlich gilt.
Die beschriebene Szene aus dem Kurzfilm MATHIAS ist der Regisseurin Clara Stern unheimlich wichtig. Von Anfang an stand sie im Drehbuch, das sie zusammen mit ihrem Kameramann Johannes Höß geschrieben hat: „Es ist eine meiner Lieblingsszenen aus MATHIAS. Zwar gab es viel Diskussion darüber, ob man sie nicht rauskürzen sollte, aber ich habe immer darauf bestanden, sie drin zu behalten.“
Es ist nur eine 20-sekündige Einstellung, aber sie erzählt unglaublich viel – über Posen und die damit verbundenen Vorstellungen von Männlichkeit, ebenso vom dringenden Wunsch, ein anderer zu sein, nicht aufzufallen, sich anzupassen. Tatsächlich sind es solche Details, die die Authentizität und Glaubwürdigkeit des 30-Minüters ausmachen.
Still aus MATHIAS (AT 2017, 30 min): Mathias (Gregor Kohlhofer) auf dem Weg in sein neues Leben.
Mathias ist transgender, in seinem früheren Leben hieß er Magda. Der Film zeigt Mathias mitten in der Hormonbehandlung seiner Transition. „Ich fand es spannend mich mit Geschlechterrollen auseinanderzusetzen und damit, was Männlichkeit und Weiblichkeit von den Körperhaltungen her definiert“, sagt Clara. „Ich erinnere mich genau an diese Momente in meiner Pubertät, in denen ich das Gefühl hatte, ich verhalte mich zu männlich. Als ich mich zum Beispiel mit 13 Jahren mit den Jungs aus der Klasse geprügelt habe – nicht alle Mädchen haben das gemacht.“
Um seine Männlichkeit zu beweisen, nimmt Mathias teilweise übertriebene Rollenklischees an, die auch in sein Beziehungsleben eingreifen. Vor den anderen Männern ist es ihm unangenehm, dass seine Freundin – die in den Augen seines Kollegen Andi wie eine Lesbe wirkt – ihn mit dem Auto abholt. Plötzlich ist Marie ihm nicht weiblich genug und er will unbedingt am Lenkrad sitzen. „Mathias verhält sich wie ein Macho, er greift zu den naheliegenden Stereotypen, um zu zeigen, wer er ist. Das ist ein Spiegelverhalten, weil er unsicher ist. Vielleicht braucht er das in zwei Jahren nicht mehr. Er braucht es auch schon am Ende des Films weniger.“
„Identität hat immer etwas mit Akzeptanz zu tun.“
Clara steckte für das Projekt viel Zeit in eine ausführliche Recherche zum Thema Transgender. „Wir wollten eine sehr spezielle, individuelle Geschichte erzählen, die es uns auch ermöglicht, eine allgemeine Aussage zu treffen“, begründet die Regisseurin ihre Themenwahl. „Es geht uns darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es Transpersonen in unserer Gesellschaft gibt, dass sich nicht alle Menschen mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wird, identifizieren. Aber abgesehen davon spricht Transgender ein Thema an, das jeden/jede betrifft: Identität. Die Fragen: Wer bin ich? Wer will ich sein? Wer darf ich sein? Und Identität hat immer etwas mit Akzeptanz zu tun. Mit Zugehörigkeit. Weil es für uns als Menschen notwendig ist, dass andere Menschen uns unsere Identität bestätigen.“
Als Clara und Johannes klar wurde, dass sie die Geschichte einer Transperson erzählen wollten, wurde ihnen schnell bewusst, dass es sich um einen Transmann – also female-to-male – handeln sollte, da diese Transition seltener in den Medien und Filmen repräsentiert wird als die vom Mann zur Frau. „Transmänner sind in der Gesellschaft eher unsichtbar“, so Clara.
„Es gibt Dinge, die könnte ich mir nicht ausdenken.“
Die Drehbuchidee zu MATHIAS hatten Clara und Johannes im Juni 2015, im April 2016 wurde gedreht. Für beide war es von Anfang an wichtig, möglichst realitätsnah zu erzählen: „Es gibt Dinge, die könnte ich mir nicht ausdenken“, sagt Clara. Sie suchten Transpersonen, die mit ihnen redeten und ihnen ihre Geschichte erzählten. Claras Herangehensweise an ein neues Thema besteht in einer umfassenden Recherche und einer genauen Studie der Wirklichkeit: „Eigentlich sind wir nur Diebe, wir haben uns viele Geschichten angehört und die Sachen, die wir spannend fanden, aus verschiedenen Biografien zusammengeklaubt und in eine Struktur gebracht.“
Zwei Transmänner erklärten sich dazu bereit, das Drehbuch auf Authentizität zu prüfen, erzählt Clara, die ihre Geschichte ohne eine solche Freigabe nicht verfilmt hätte. Die Anregung zu einer Szene im Film, in der Mathias in der Toilette seinen glibberigen Plastikpenis in seinen Socken wickelt, stammt auch aus der Anekdote eines Transmannes. Dieser erzählte der Regisseurin, dass er so sein Penis-Imitat verstaue, wenn es im Sommer sehr heiß sei. Die Komik dieser Filmsequenz entspringt einer Mischung zwischen existenzieller Ernsthaftigkeit und Slapstick. So ist es lustig und traurig zugleich, wie Mathias hastig versucht, das unechte Geschlechtsteil vom Klopapier zu befreien, das darauf klebengeblieben ist. Mathias’ Männlichkeit – verkörpert durch die wabernde Penis-Prothese – ist noch ungelenk und muss erst perfektioniert werden.
Still aus MATHIAS: Die Liebe zwischen Marie (Magdalena Wabitsch) und Mathias (Gregor Kohlhofer) wird auf die Probe gestellt.
Ursprünglich wollten Clara und Johannes die Rolle des Mathias mit einem „echten“ Transmann besetzen. „Beim Casting wurde allerdings schnell klar, dass man stark mit Improvisation arbeiten müsste. Wir hätten alles umstellen müssen und wären vom ursprünglichen Drehbuch immer weiter weggekommen“, so Clara.
Sie castete insgesamt über 130 Leute in zwei Monaten. Schließlich entschied die Regisseurin, die Rolle des Mathias mit dem Schauspieler Gregor Kohlhofer zu besetzen. „Er ist in Wirklichkeit ganz anders als im Film. Er ist ein offener, positiver, eher lauter Mensch, vielleicht auch femininer. Davon nimmt er beim Spielen automatisch etwas zurück. Ich habe ihn nicht getypecasted im Sinne von Verhalten. Er spielt eine große Selbstkontrolle“, sagt Clara über Kohlhofer, den sie nach dem ersten Casting zu weiteren Kombinationscastings einlud, um ihn mit verschiedenen Partnerinnen zusammenzubringen.
Magdalena Wabitsch erwies sich als das passendste Partnerinnen-Pendant: „Die beiden hatten eine wahnsinnige Vertrautheit und eine tolle Energie miteinander. Wahrscheinlich auch, weil sie bereits seit Jahren eng befreundet sind“, so die Regisseurin. „Das ist das Schöne an der Regiearbeit, 80 Prozent der Arbeit macht eine gute Besetzung aus.“
Ob ein Mann oder eine Frau für die Transmann-Rolle besetzt werden, war natürlich eine wichtige Entscheidung. Boys don’t cry (1999) sei beispielsweise mit einer Frau besetzt worden, erklärt die Filmemacherin: „Allerdings befindet sich die Person in einem anderen Stadium der Transition und der Film spielt damit, dass die Schauspielerin prominent ist und alle wissen, dass sie eine Frau ist. Sie muss das Publikum überzeugen, dass sie ein Mann ist. Im Gegensatz dazu haben wir damit gespielt, dass der Schauspieler von MATHIAS unbekannt ist. Im Endeffekt darf das keinen Unterschied machen.“
Das Team von MATHIAS nach der Diagonale-Preisverleihung in Graz.
MATHIAS feierte 2017 auf der „Diagonale – Festival des österreichischen Films“ Premiere und gewann dort den Preis für den besten Kurzspielfilm. Seitdem hat er eine beachtliche Festivalkarriere hinter sich, er lief unter anderem bei identities – QUEER FILM FESTIVAL und dotdotdot – OPEN AIR KURZFILMFESTIVAL in Wien, dem Sarajevo Film Festival, dem Iris Price Festival in Cardiff und zuletzt auf den Hofer Filmtagen.
Derzeit arbeitet Clara an einem Langfilm mit Transgender-Thema. Es ist der Stoff, mit dem sie den Carl-Mayer-Drehbuchpreis gewonnen hat.