Auf zu neuen Welten – Suchbewegungen eines Widerständigen
Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Kann der Einzelne die Welt verändern? Oder muss er sich erstmal selbst neu erfinden? Diese und verwandte Fragen verhandeln die filmischen Arbeiten des 1981 in Frankfurt am Main geborenen Künstlers Jan Groos – allen voran das multimediale, mehrteilige Projekt Endzeit. Selbstkritisch und mit Freude am formalen Experiment lotet es die Verheißungen und Fallstricke alternativer Lebensmodelle aus. Seine erzählerische Suchbewegung spiegelt die Neugierde ihres Urhebers, der seine bisherige Laufbahn als kontinuierliche „Sichterweiterung“ versteht.
Es war die Suche nach neuen Herausforderungen, die Jan auf den Weg zur Kunst brachte. Mit Anfang zwanzig verfolgte er noch ein politikwissenschaftliches Studium in Potsdam. „Nach einem Jahr habe ich gemerkt: Es fällt mir nicht schwer, einen theoretischen Text zu lesen und diesen sinngemäß wiederzugeben. Wenn ich weitermache, lande ich wahrscheinlich bei einer NGO. Das hätte meiner Konstitution durchaus entsprochen, mir aber zu wenig abverlangt. Daher entschied ich mich für einen bewussten Richtungswechsel. Das Künstlerische traute ich mir damals am wenigsten zu – und fand es genau deshalb am Spannendsten.“
2003 zog Jan nach Wien, wo die Arbeit an einem neuen Selbstverständnis begann: „Die Rolle des Künstlers schreibt sich nicht jeder zu. In meinem Elternhaus war das zwar akzeptiert, aber man hat sich nicht so gesehen. Vielleicht übte es genau deshalb einen speziellen Reiz auf mich aus.“ Ein intensives Jahr lang besuchte er die Schule Friedl Kubelka für künstlerische Fotografie. In seinen Augen war das der ideale Ort für eine Umorientierung. „In erster Linie ging es dort darum, sich selbst als künstlerisches Wesen zu begreifen und sich damit auseinanderzusetzen, was das eigentlich bedeutet. Dafür bin ich Kubelka auf ewig dankbar.“
„Der Filmzuschauer traut sich eher, eine eigene Meinung zu dem zu haben, was er sieht – wahrscheinlich, weil er das Medium besser kennt.“
Im Anschluss führte der Wunsch, die künstlerische Bildung zu erweitern, an die Akademie der bildenden Künste – zunächst zu Monica Bonvicini, die Bildhauerei und performative Kunst unterrichtete. Trotz gutem Klassengefüge wechselte Jan nach ein paar Jahren zu Harun Farocki, weil er sich von Film mehr Offenheit versprach: „Das Verhältnis des Betrachters zur bildenden Kunst ist in meiner Wahrnehmung von großen Komplexen behaftet. Der Filmzuschauer traut sich eher, eine eigene Meinung zu dem zu haben, was er sieht – wahrscheinlich, weil er das Medium besser kennt. Ich fand das viel attraktiver, weil ich mich vom pseudo-elitären Getue der Kunstwelt abgestoßen fühlte. Allein schon durch den musealen Raum, in dem Kunstwerke auf einem Podest zum Bestaunen freigegeben werden.“
Es folgte eine Phase des Probierens und Experimentierens. Seine ersten Kurzfilm-Gehversuche findet Jan eher unbeholfen. Richtig geklickt hat es erst, als er sich mit seiner Schwester Anna zusammentat. „Sie hat Theaterwissenschaften in Deutschland studiert, als Geschwister standen wir uns schon immer nahe. Irgendwann kam der Plan auf, etwas gemeinsam zu machen – und es hat auf Anhieb gut funktioniert.“ Das liegt auch an Jans bevorzugtem Kreativprozess. „Das stille Kämmerlein, in dem der Geniekünstler Meisterwerke aus sich herauszieht, ist meine Sache nicht. Ich finde es spannender, mit jemandem zu reden und so die gegenseitigen Blickfelder zu erweitern. Und weil Anna und ich zusammen aufgewachsen sind, haben wir dafür eine gute Basis.“
Das Geschwisterpaar Anna und Jan Groos am Set von Zoon Politikon (2016) mit Schauspieler Michael Fuith.
Um ihrem Filmschaffen einen formalen Rahmen zu geben, gründete das Duo 2013 die „Groosproduktion“. Ihre erste gemeinsame Arbeit trägt den eigentümlichen Titel Das ist es, was immer mit den Menschen los ist und mit den Tieren nicht los ist (DE/AT 2013, 45 min) – und stellt gleichzeitig Jans Abschlussfilm an der Akademie dar. Darin begibt man sich in einer Abfolge von Interviewsequenzen auf die Spuren einer verschwundenen Frau, die offenbar mehrere Leben nebeneinander führte: Als Tochter, als Freundin, als Gläubige und als anarchistischer Freigeist. Im Zuge der Gespräche mit den Menschen, die sie täuschte, tröstete und inspirierte, formt sich kein schlüssiges Bild – aber die sozialen Bedingtheiten und die Brüchigkeit des modernen Identitätsbegriffs treten in aller Deutlichkeit hervor.
Trailer Das ist es, was immer mit den Menschen los ist und mit den Tieren nicht los ist (R: Jan und Anna Groos, DE/AT 2013, 45 min).
Es ist ein ungewöhnliches, konzeptuell ausgeklügeltes und intellektuell anregendes Debüt. Seine künstlerische Ausarbeitung fußt, von der Stoffentwicklung über das Drehbuch bis zur Regie, auf der diskursiven Kollaboration des Geschwisterteams – ebenso wie bei späteren „Groosproduktionen“. „Beim Dreh kann das sehr hilfreich sein“, meint Jan: „Uns ist es wichtig, dass sich die Leute, mit denen wir zusammenarbeiten, wohlfühlen. Damit das funktioniert, braucht man Ansprechpartner für alles, und unsere verschiedenen Persönlichkeiten und Zugänge ergänzen sich gut.”
„Man folgt den Dingen, die einen beschäftigen. In unserem Fall war das die Frage, wie sich verschiedene Leute – und wir selbst – in der Welt verorten.“
Der Erstling geriet zur wirkungsvollen Visitenkarte für Schauspieler und Förderstellen – obwohl es am Anfang Schwierigkeiten mit der Auswertung gab: „Mit 45 Minuten waren wir zu lang für einen Kurzfilm und zu kurz für einen Langfilm – das war ein Stolperstein bei Festivaleinreichungen. Zum Glück gibt es beim Filmfestival Max-Ophüls-Preis und bei der Diagonale – Festival des österreichischen Films eine Kategorie für mittellangen Film.“
Das nächste Projekt sollte erheblich länger werden: Die Webserie Endzeit (AT 2015) umfasst sieben Folgen, deren summierte Laufzeit sich auf knapp zwei Stunden beläuft. Sie spinnt ein Motiv weiter, das schon in Das ist es … angeschnitten wurde: Die Unzufriedenheit mit den Gegebenheiten und das Bedürfnis, aus ihnen auszubrechen. „Man folgt den Dingen, die einen beschäftigen. In unserem Fall war das die Frage, wie sich verschiedene Leute – und wir selbst – in der Welt verorten. Inwiefern die Angebote für diese Verortung etwas taugen oder nicht. Und was es bedeutet, sich einem Definitionszwang ausgesetzt zu fühlen. Das war bei Das ist es … die vordringliche Leitlinie. Im Fall von Endzeit ging es eher um die Suche nach einer gesellschaftlichen Konstellation abseits des Status Quo.“
Folge 1 von Endzeit (R: Jan und Anna Groos, AT 2015, 16 min, 7 Folgen insg. 112 min).
Die Serie folgt dem Künstler Daniel. Frustriert vom Alltag im Prekariat und den Scheinheiligkeiten des Kulturbetriebs beginnt er, Alternativen auszuloten: Sei es nun als Autarkist am Subsistenzbauernhof oder als Onlinehändler für hippe Survival-Rucksäcke. Sein Krisenstimmungseifer entfremdet ihn zusehends seinem sozialen Umfeld und seiner Rolle als Familienvater.
Still aus Endzeit: Daniel (Jan Groos) bringt seinem Sohn Max Survival-Skills bei.
Die Frage nach der autobiografischen Färbung des Stoffs stellt sich nicht zuletzt, weil Daniel von Jan gespielt wird – doch am Anfang stand eine simple Idee: „Wir hatten das Gefühl, dass eine gesellschaftliche Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft in der Luft lag und wollten diese einfangen – damals war das schließlich noch nicht so augenscheinlich wie heute. Die Verbindung dieses Aspekts mit dem Milieu des Künstlerprekariats hat natürlich autobiografische Züge – aber das kann man nicht eins zu eins übereinanderlegen. Es ist nicht meine Lebensgeschichte, die da erzählt wird.“
Zudem war das Regie-Duo stets darauf bedacht, Daniel nicht zum tragischen Helden zu stilisieren. „Man schrammt, wenn man das Thema ernstnimmt, ganz hart an der Pathosschiene entlang. Die Unmöglichkeit der Situation haben wir immer mitbedacht – die Frage, ob das jetzt nicht eigentlich total egoistisch ist, was Daniel macht. Es sollte keine banale ‚Kämpfer-für-Gerechtigkeit’-Story werden.“
„Die Norm ist uns wurst.“
Formal nimmt sich Endzeit viele Freiheiten, webt etwa trotz Minimalbudget ein glaubhaftes Sci-Fi-Element in seine Handlung ein. Auch das atypische Format zeugt von einer Verweigerung überkommenen Schubladendenkens. „Anna und ich mögen Serien sehr gerne und wollten unbedingt eine machen“, erinnert sich Jan. „Da der klassische TV-Weg ausgeschlossen schien, lag die Webvariante als Alternative nahe. Uns war bewusst, dass Webserien bis zu einem gewissen Grad als Trash-Format gelten. Das war aber auch ein Plus: Wenn man sich nicht auf Drei-Minuten-Clips mit zwei Gags und einer Punchline beschränkt, sondern einen gewissen Anspruch verfolgt, sticht man relativ schnell hervor.“ Eine neue Förderschiene beim BKA („Neue Formate“) kam da wie gerufen: „Keine Spielfilme, keine Medienkunst, sondern irgendwas dazwischen: Wir haben zu hundert Prozent hineingepasst. Dann gab es noch Geld vom Land Niederösterreich und von der Stadt Wien. Aus Spielfilm-Sicht waren wir natürlich Low-Budget, aber für eine Webserie ganz gut ausgestattet. Mit viel Do-it-Yourself und Harakiri haben wir’s dann durchgezogen.“
Die Crew und das Ensemble setzten sich aus Freunden, Bekannten, Zufallsbewerbern und Entdeckungen zusammen; sogar Jans damals fünfjähriger Sohn Fynn wirkte mit. „Unserer Produktionsleiterin haben wir über eine Ausschreibung gefunden. Sie hatte so etwas noch nie vorher gemacht – aber das ist für uns kein Ausschlusskriterium, solange jemand mit Begeisterung bei der Sache ist. Da habe ich mit Technikern, die ihren Professionalismus vor sich hertragen, viel mehr Probleme. Sie kennen eine Norm und glauben: So muss das gemacht werden, alles, was davon abweicht, ist dilettantischer Dreck. Aber die Norm ist uns wurst.“
Auto-Tune the Endzeit: Daniels Wutbürger-Waldtirade als YouTube-Hit.
Diese Offenheit für unkonventionelle Ansätze schlägt sich auch im ungewohnt natürlichen Schauspiel von Endzeit nieder. Als Inspiration dafür nennt Jan die US-amerikanische Independent-Legende John Cassavetes: „Die Direktheit seines Gestus spricht mich sehr an: Dass man sich keine Grenzen setzt in Bezug auf die Länge einer Szene oder die Ausformungen des gesprochenen Wortes. Dafür braucht man allerdings ein Team, das diesen Zugang akzeptiert. Wir hatten zwei sehr bewegliche Kameras und tolle Kameraleute, die schnell auf alles reagieren konnten. Das war aufgrund der Materialfülle ein ziemlicher pain in the ass beim Schnitt, hat sich aber sehr gut bewährt.“ Jan selbst hatte vor Endzeit keine Schauspielerfahrung: „Ich wollte es einfach mal ausprobieren. Und es hatte den Vorteil, die Szene vor der Kamera über die Vorgabe bestimmter Energien mitlenken zu können.“
Endzeit Expanded Universe: Eines von Daniels Recherche-Interviews:
http://aufzuneuenwelten.endzeit.at/category/interviews/
Eine weitere Besonderheit von „Endzeit“ ist die Expansion des Serienuniversums im Netz. Auf der Homepage www.endzeit.at lassen sich Daniels Recherchen zu alternativen Seinsweisen unter der Rubrik „aufzuneuenWelten“ nachverfolgen: Dort finden sich Videointerviews, Reddit-Posts und andere Metatexte. Laut Jan entspringt diese Ergänzung einem Bedürfnis, die Nebenprodukte der künstlerischen Arbeit vor der Verdeckung durchs Endresultat zu retten. „Mit den gesellschaftlichen Fragestellungen der Serie haben wir uns wirklich auseinandergesetzt. Das sind die Artefakte, die unterwegs hergestellt oder mitgenommen wurden: Keine lückenlose Dokumentation, aber die Abbildung eines Entstehungsprozesses.“
„Wenn ich jemand wäre, den Unsicherheiten sehr belasten würden, hätte ich meinen Weg nicht gehen können.”
Dieser Aspekt verweist auch auf Jans gegenwärtiges Interessensgebiet: Artistic Research. Dabei handelt es sich um den Versuch, die Logiken von Wissensproduktion aus der traditionellen Forschung fruchtbar mit denen aus dem Feld der Kunst zu vermengen. Unlängst realisierte Jan zusammen mit anderen Künstlern im Auftrag des österreichischen Research Institute for Future Cryptoeconomics eine Episode des Medienkunstfestivals Future of Demonstration. Dabei wurden die Dynamiken hinter Kryptowährungen wie Bitcoin im Zuge einer interaktiven Performance erfahrbar gemacht. Seine Zusammenarbeit mit dem RIAT hat in Jan sogar den Gedanken geweckt, ein Doktorat in Angriff zu nehmen. „Die theoretische Auseinandersetzung macht mir nach wie vor Freude, sie füttert eine bestimmte Ebene in mir – offenbar komme ich jetzt also wieder zu meinen Anfängen zurück.“
Die filmische Arbeit will er darob aber nicht begraben. Als nächstes steht Endzeit – der Film auf dem Programm – der dritte Teil der Saga nach der Serienstaffel und einem halbstündigen Fernsehspecial namens Zoon Politikon (AT 2016), das für ORF III gedreht wurde und unter anderem die Vereinnahmung linker Ideen durch neurechte Ideologen thematisiert.
Endzeit-TV-Special Zoon Politikon (R: Jan und Anna Groos, AT 2016, 29 min).
„Der Plan ist jetzt, einmal durch alle Medien zu gehen: Webserie, Fernsehen, Kinofilm. Aber das dauert noch ein bisschen, ich brauche erstmal etwas Zeit zum Durchatmen. Energetisch war Endzeit ein extremer Kraftakt, insgesamt haben wir von der Idee zur Veröffentlichung drei Jahre gebraucht. Irgendwann bin ich auf den Kopf gefallen – buchstäblich: Ich war mit dem Rad unterwegs, bin umgefallen, und habe in Folge kurzzeitig mein Gedächtnis verloren.“ Inzwischen hat er es wieder – und blickt seiner eigenen Zukunft optimistisch entgegen. „Ich bin grundsätzlich kein Mensch mit großen Zukunftsängsten, was mir sehr hilft. Wenn ich jemand wäre, den Unsicherheiten sehr belasten würden, hätte ich meinen Weg nicht gehen können.“ Jan Groos geht ihn unbeirrt weiter – von Endzeit keine Spur.