Aleksey Lapin| Autor und Regisseur
Porträts

Aleksey Lapin| Autor und Regisseur

April 2022

Der Baum macht, was er will

 

Mit bloßem Geschichtenerzählen stellt sich der 1988 in Russland geborene Aleksey Lapin nicht zufrieden. Echte Geschichten entstehen für ihn nicht im Drehbuch, sondern in den Köpfen der Zuschauer*innen. Aleksey sieht seine Arbeit darin, diesen Material für neue Ideen und Gefühle zur Verfügung zu stellen. In seinen Filmen – etwa im Dorfporträt Krai (2021, 123 min), Alekseys Langfilmdebüt, das 2021 auf der Viennale Premiere feierte und soeben in Graz auf der Diagonale’22 gezeigt wurde – dient oft das Dokument der Fiktion und umgekehrt. Was manchmal kleine Wunder bewirkt.

Was ist Kino? Wenn Menschen einen Baum fällen und ihn anderswo neu aufstellen, damit ein junger Mann auf einem Pferd für die Kamera daran vorbeireiten kann? Oder wenn dieser Baum macht, was er will – und plötzlich während der Aufnahme umfällt? Das sind Fragen, die Alekseys Film Krai aufwirft, ohne sie je ausdrücklich zu stellen. Man kann sich darüber Gedanken machen. Oder einfach nur zuschauen und sich im poetisch plätschernden Bilderfluss treiben lassen. In erster Linie ist Krai nämlich das offene, humorvolle und unbeschwerte Porträt eines Dorfs an der russisch-ukrainischen Grenze: seiner Einwohner*innen, seiner Natur, seines Lichts, seiner Zeitlichkeit.

Krai ist Alekseys erster Langfilm – und, wie man heute sagt, ein “hybrides” Werk (wiewohl der Filmemacher diese Definition ablehnt). Es lebt also, wie seine Protagonist*innen, in einem Grenzgebiet, lässt sich weder dem Fiktionalen noch dem Dokumentarischen eindeutig zuordnen. Dafür zeugt es klar und deutlich vom Talent seines jungen Urhebers, der im besten Sinne zwischen den Stühlen sitzt: formal, national und konzeptuell.

Aleksey wurde 1988 in Tomsk geboren. Er fühlt sich dort aber nicht beheimatet, wie er im Gespräch erzählt. Seine Kindheit verbrachte er im ukrainischen Sumy. Meine Eltern hatten dort ein Landhaus, wo ich viele Sommer verbracht habe. Es war ein komischer Ort, doch meine Erinnerung daran ist sehr idyllisch: ein riesiges Haus mit einem riesigen Garten in einem ausgestorbenen Dorf.” Alekseys Familie hatte einen Videorekorder, damals eine rare Kostbarkeit. Damit sah der jüngere von zwei Brüdern seine ersten Filme: Amerikanische Thriller wie Terminator. Und den alten King Kong. Ich habe nichts verstanden, aber das Monster hat mich enorm fasziniert.”

Alekseys Mutter war Chemikerin, sein Vater dozierte an der Uni über theoretische Physik. Für einen Job des Vaters zog die Familie nach Trient in Norditalien, als Aleksey zehn Jahre alt war. Anfangs fiel ihm das Leben in der Fremde schwer: Ich war vertraut mit dem Schulsystem der Sowjetunion: große Klassen, Zucht und Ordnung. Wenn ein Stift auf den Boden fiel, musste man aufzeigen und fragen, ob man ihn aufheben durfte.” Im Vergleich fühlte sich Schule in der italienischen Provinz an wie ein Kindergarten. Es war eine große Umstellung. Den Weg in die Gemeinschaft fand ich erst über Fußball.” Der Ballsport half Aleksey, Freunde zu machen, er hat lange gekickt. Bis ich das Kino entdeckte”, fügt er lachend hinzu.

Eine Offenbarung, die sich dem Fernsehen verdankte. Damals nutzte Aleksey Sprachtraining als Vorwand für intensiven TV-Konsum. Ich habe viele Filme aufgezeichnet. Der erste war Spartakus von Stanley Kubrick. Leider war auf der Kassette nicht genug Platz für drei Stunden. Bis heute habe ich den Film nicht zu Ende gesehen.” Damals hatte Aleksey noch kein Bedürfnis, selbst Filme zu drehen. Es keimte später, nach der Begegnung mit Andrei Tarkowskis Stalker, von dem sein Vater ihm lange vorgeschwärmt hatte. Und dank Fuori Orario, einer Kunstkino-Sendereihe des Filmkritikers Enrico Ghezzi. Ich begriff, dass Kino eine spannende Kunstform sein kann. 

Tarkowskis Filme haben für Aleksey immer noch eine eigenartige Magie: Sie sind sehr offen und direkt, man kann darin aufgehen, in ihnen leben.” Prägend war auch Aleksei Germans Mein Freund Iwan Lapshin, der Aleksey mit seinem Realismus überrumpelte: Es gibt darin eine Mordszene, in der der Mörder von einem echten Kriminellen gespielt wird. Für mich war das ein Faszinosum, dessen Wirkung ich unbedingt ergründen wollte.”

Inspiriert von Stalker und Chris Markers La jetée überzeugte Aleksey seine Schulfreunde, einen Science-Fiction-Film zu drehen: Obwohl ich ein eher schüchterner Mensch bin, war ich in meiner Klasse einer der Aktivsten. Das machte es einfacher, die Leute zu motivieren.” Das Experiment läutete eine cinephile Leidenschaft ein. Ein Freund und ich haben sogar ein Filmlexikon aus der Schulbibliothek gestohlen, eine dicke Sammlung mit Filmtiteln, Kurzbeschreibungen und Bewertungen. Filme, die fünf Sterne hatten, versuchten wir irgendwie ausfindig zu machen.” Gute Kinos gab es in Trient nicht, aber dank des Internets war das nicht mehr so schwer. Hilfreich war auch eine Videothek im örtlichen historischen Museum. Dort haben wir endlos nach bestimmten Filmen gesucht. Wenn wir sie fanden, war das wie die Entdeckung des heiligen Grals.” In diese Zeit fielen auch erste Versuche Alekseys, über Film zu schreiben, im Online-Forum der Schule: Mich faszinierte, wie man dabei neue Ideen entwickeln konnte.”

Einer der ersten Filme, die Aleksey im Rahmen seines Studiums an der Filmakademie Wien realisierte: A new tractor is coming to town, the working class takes a break (2012, 5 min).

Nach dem Abitur musste Aleksey seine Filmpassion temporär stilllegen. Aufgrund seines Zeichentalents (und weil sein Bruder dort studierte) bewarb er sich an der Bozener Uni für Design und Kunst. Doch das Designstudium war Aleksey zu technisch und funktionell: “Ich bin nicht praktisch veranlagt. Aber es gab an der Uni auch einen Videokurs, den ich liebte”. Dort entstand in langen Nächten Alekseys erster “richtiger” Film, No Contact (2008, 7 min): eine berückende Miniatur über einen einsamen Astronauten, den Botschaften von der untergehenden Erde erreichen, beeinflusst von einem Buch Philip K. Dicks und etlichen Sci-Fi-Klassikern. “Ich war immer ein großer Fan von Science-Fiction, weil es einem erlaubt, über Dinge zu reden, die nicht existieren, aber an die man glaubt – fast wie Religion.” Am Anfang all seiner Filmprojekte stand eine Science-Fiction-Idee, die dann nicht umgesetzt werden konnte, so Aleksey: Bei Krai merkt man es etwa am rätselhaften Gas, von dem am Anfang des Films die Rede ist und das die Dorfbewohner*innen verrückt gemacht haben soll.

Nach dem Studium in Bozen machte Aleksey ein Erasmus-Semester an der Bauhaus-Universität Weimar. Eine wegweisende Erfahrung: “Ich lernte dort Musiker kennen, die machten, was sie liebten. Das beeindruckte mich.” Überdies sah er in dieser Zeit Michael Hanekes Funny Games, was sich als Fährte in die Zukunft erwies. “Meine damalige Freundin wollte in Wien Musik studieren. Ich sah, dass Haneke an derselben Uni unterrichtete. Das machte mich neugierig.” Also bewarb sich Aleksey an der Filmakademie – mit Erfolg. Haneke war damals am Höhepunkt seiner Karriere. “Es konnte einen schon einschüchtern, von einer solchen Autorität unterrichtet zu werden. Aber ich hatte das Glück, dass Haneke mich mochte und auch Erwartungen an mich stellte.”

In Wien konnte Aleksey zum ersten Mal bewusst und regelmäßig ins Kino gehen. Das Österreichische Filmmuseum war eine Stammadresse. Dennoch ist Filmschauen für ihn etwas sehr Privates: “Wenn mich etwas wirklich interessiert, sehe ich es mir am liebsten alleine an.” Die Zeit an der Filmakademie empfindet Aleksey als förderlich, aber anstrengend. Er hätte sich etwas weniger Fokus auf das Handwerkliche gewünscht: “Diskussionen darüber, welche Digitalkamera die beste ist, haben mich nur bis zu einem gewissen Grad interessiert.”

Still aus Rhythmus 59.

Still aus Geschichte 2000. Beide Filme sind in der rechten Spalte verlinkt.

Im Studium lernte Aleksey seinen langjährigen Wegbegleiter Markus Zizenbacher kennen. Gemeinsam drehten sie Kurzfilme wie Rhythmus 59 (2016, 28 min), Geschichte 2000 (2017, 28 min) und die absurde Actionfilmparodie Snake (2016, 18 min). Besonders die erstgenannten Arbeiten, ungeschliffene Tragikomödien mit wilder Zick-Zack-Dramaturgie und Hang zur emotionalen und schauspielerischen Eskalation, heben sich vom gewohnten Hochschulfilm-Einerlei ab. Laut Aleksey entstanden sie beinahe ohne Budget, um Bürokratie zu vermeiden. Oberste Priorität hatten Spaß und Selbstfindung. Gedreht wurde zum Teil an der tschechischen Grenze. Ein Fluchtort, der Exotik ins Geschehen brachte: Markus und ich hatten beide einen Drang nach Osten.”

Vergleiche von Rhythmus 59 und Geschichte 2000 mit Arbeiten Ulrich Seidls kann Aleksey nur zum Teil nachvollziehen. “Meine Filme haben oft eine theoretische Schlagseite. Gleichzeitig war mir immer wichtig, beim Dreh Menschenkontakt zu suchen, um einzufangen, was in der Luft liegt. Vielleicht erinnert das manche an den Zugang Seidls.” Markus und Aleksey scheuten sich nicht, wildfremde Personen zu bitten, in ihren Filmen mitzuspielen. “Es war ein Rausch, ein Abenteuer. Wir waren Fanatiker. Vielleicht liegt das auch auf der Hand, wenn man kaum Mittel zur Verfügung hat. Dann fängt man zwangsläufig an, mit der Realität zusammenzuarbeiten, statt gegen sie anzukämpfen.”

Bis heute interessiert Aleksey weniger das Kalkulierte, sondern das Echte und Unvorhergesehene, das man erst einfangen muss: “Es geht mir darum, unseren Blick auf die Welt zu erweitern, mit Klischees und Gemeinplätzen zu brechen, übliche Definitionen neu zu definieren. Ein Plot eines Films ist nur ein Vorwand, um Zuschauer*innen eine sensorische Erfahrung zu bieten, die sie bereichern kann, indem sie ihnen hilft, das Leben zu betrachten, sich damit zu konfrontieren und selbstständig bestimmte Schlüsse zu ziehen. Heutzutage ist es schwer, das, was gefühlt werden muss, von dem zu unterscheiden, was man wirklich fühlt. Das Kino, das ich verfolge, soll uns die Möglichkeit geben, unsere echten Gefühle wiederzuentdecken. Ich bin kein Fan von Filmen, die mir Emotionen aufzwingen, die mir Bedeutungen vorgeben. Eine Erkenntnis ist immer persönlich und kann nicht durch Zwang erreicht werden.” Seit jeher sucht Aleksey dafür nach einer Balance zwischen Kontrolle und Kontingenz. Das Dokumentarische allein kann die Realität aus seiner Sicht nicht fassen. Für den Kurzspielfilm 100 EUR (2018, 25 min), worin sich zwei rumänische Saisonarbeiter vor ihrer Abreise in die Heimat um Geld bemühen, übte er sich daher in Genauigkeit: “Es hat mir Spaß gemacht, ein präzises Drehbuch zu schreiben und zu verwirklichen. Ich hatte fast vergessen, wie schön es sein kann, alles gestalten zu können. Am Ende geht es dabei nicht um Sicherheit, sondern darum, Dinge ernst zu nehmen.” In 100 EUR arbeitete Aleksey zum ersten Mal mit Claudia Joldes zusammen. Sie spielt im Kurzfilm mit, leitete ihn als Produzentin und wurde zu einer polyfunktionalen Komplizin für künftige Projekte.

In Krai findet Aleksey zu einem betörenden Gleichgewicht zwischen Inszenierung und Offenheit. Der Ursprung des Films liegt im Bedürfnis des Regisseurs, Erinnerungen an seine Zeit in Russland auf den Grund zu gehen. Krai spielt im Dorf Jutanowka in der Region Belgorod. Alekseys Großvater, der einst dort lebte, verließ es während der Sowjetzeit wie viele andere in Richtung Kasachstan. In den 1990er-Jahren kehrten viele, deren Familien dorthin ausgewandert waren, wieder zurück. Alekseys Cousins, die in Krai zu sehen sind und mit denen er zwei sehr intensive Jahre seiner Kindheit verbrachte, leben dort. Er hat sie im Laufe seines Lebens immer wieder besucht und auch Filmaufnahmen gemacht, zum Andenken. “Das Dorf war immer ein Mysterium für mich. Ich fragte mich: Ist es nun meine Heimat oder nicht – und gibt es so etwas wie Heimat überhaupt? Der Wunsch, sich damit auseinanderzusetzen, war ein Ausgangspunkt des Films.”

Die Ereignisse der Jahre 2014 und 2015 – die Krim-Annexion, der Krieg im Donbass – brachten Aleksey dazu, wieder nach Belgorod zu fahren, ausgestattet mit einer besseren Kamera. Schon damals gab es dort Geflüchtete aus der Ukraine, auch Söldner, die in den Kampf geschickt wurden. “Ich war schockiert. Für mich war der Ort ein Idyll gewesen, ein Ruhepol. Ich wollte verstehen, was los war. Aber auch meine filmischen Fantasien haben mitgespielt. Ich betrachtete Jutanowka als Feld der Freiheit, wo alles möglich war. Das hielt nicht lange an: Bald kontaktierte mich ein FSB-Agent und riet mir, nicht zu viel zu drehen, es besser bei Heimvideos zu belassen. Ihm ging es vor allem darum, mir Grenzen aufzuzeigen. Ich wollte ohnehin nie ein Reporter sein – und jede Grenze ist ja nur eine Anregung für die Kreativität. Ein Fokus auf das Leben meiner Familie war mir genug, um universellere Themen zu verhandeln.”

Um die Dorfbewohner*innen zur Mitwirkung an seinem Film zu animieren, zog Aleksey eine Metaebene ein, machte den Dreh selbst zum fiktionalen Bestandteil seines Konzepts. “Fast alle waren an unserer Anwesenheit interessiert, aber nur wenige gingen auf uns zu. Also habe ich mir die Idee mit dem Film im Film überlegt und gesagt: Die Kamera ist da, sie läuft, wann sie will, eine Klappe gibt es nicht.” Bei Castings wurde oft gleich der erste Versuch aufgezeichnet. Wichtig war Aleksey die Kombination aus Gespieltem und Nicht-Gespieltem. Krai beginnt in diesem Sinne mit einer Off-Stimme, die eine wunderliche Alltagsanekdote erzählt. Die Bilder dazu lassen offen, was an ihnen inszeniert ist und was nicht. “Ich wollte keinen Pakt mit dem Publikum, bei dem sofort klar wird, ob es sich um einen Spielfilm oder um einen Dokumentarfilm handelt”, meint Aleksey. “Im Gegenteil: Die Wirklichkeit sollte im Film zerbrechen und neu zusammengesetzt werden. Nur so kann man sie genauer betrachten.”

Sommerliche Dreharbeiten: das Team von Krai.

Genau diese Art von Bricolage macht Krai zu einem Unikat. Alekseys Film ist ein Sammelsurium von Eindrücken und Momentaufnahmen, Berichten und Beobachtungen. Aber auch von Szenen und Performances, Spinnereien und Schaustücken. Im Verbund skizzieren diese ein vielschichtiges Stimmungsbild von Jutanowka, reich an Geschichte und Science-Fiction, schillernd in kristallklarem Schwarz-Weiß. Aber auch einen Eindruck dessen, wie das Dorf sich selbst wahrnimmt, wie es wahrgenommen werden will. Und nicht zuletzt eine ebenso ernste wie augenzwinkernde Spiegelung des neugierigen Filmemacherblicks. Krai ist, in Anspielung auf die eingangs beschriebene Filmsequenz, ein kleines Wunder: ein Baum, der zugleich steht und umfällt.

von Andrey Arnold, im April 2022
Porträtbild oben © Claudia Joldes