Futter für den Filmbesessenen
Seine Sommerferien verbrachte David Clay Diaz im Kino, an der Filmhochschule war er der jüngste Regiestudent. In Agonie, seinem Abschlussfilm, der 2016 bei der Berlinale Weltpremiere feierte, verarbeitet er einen Mord in seinem Bekanntenkreis. Überhaupt kreisen die Filme des 29-Jährigen um düstere, existenzielle Themen wie den Umgang mit Schuld und Tod. Momentan schreibt David gleichzeitig an mehreren Drehbüchern, die alle mit eigenen Erfahrungen oder Begegnungen zusammenhängen. Der Filmemacher liebt Kontrolle und Struktur, seine Geschichten möchte er lieber nicht dem Zufall überlassen.
David Clay Diaz gehört zu den Filmbesessenen. Seit er denken kann, wollte der 1989 in Asunción, Paraguay geborene Regisseur Filme machen. „Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich jemals einen anderen Berufswunsch gehabt habe“, so David. Im Maturajahr wurde er von einer Lehrerin gefragt, welchen Beruf er ergreifen wolle. Als er ihr von seinem Traumjob erzählte, empfahl sie ihm, seine Entscheidung nochmal zu überdenken. Damit könnte man schließlich kein Geld verdienen, meinte die Lehrerin. „Ich glaube, dass die Abschreckung bei vielen gewirkt hätte. Aber ich habe mich davon nicht beeindrucken lassen“, sagt David. Seine ersten drei Lebensjahre verbrachte er in Lima, dann zog er mit seiner peruanischen Mutter und dem österreichischen Stiefvater nach Wien, wo er aufwuchs und zur Schule ging. Nach dem Studium in München und New York lebt der Filmemacher nun seit eineinhalb Jahren in London. Wo genau seine Heimat ist, kann David, der mehrsprachig aufgewachsen und dessen leiblicher Vater US-Amerikaner ist, nicht wirklich sagen: „Am ehesten eh Wien, weil ich da sozialisiert wurde.“
„Alle fuhren ans Meer, nur ich habe Filme geschaut.“
Die Sommerferien verbrachte David stets im Kino. „Wir hatten nie die Möglichkeit, groß zu verreisen. Alle meine Schulfreunde fuhren ans Meer, nur ich habe Filme geschaut.“ Und zwar alles, was es gab, meistens allein. Besonders die Werke von Ingmar Bergman und Andrej Tarkowskij prägten den jungen Regisseur. „Ich schlage da keine Brücke zu dem, was ich mache, aber Tarkowskij ist für mich ein großes Mysterium und bewegt mich stark, auch wenn ich manchmal eingeschlafen bin. Es liegt eine so unglaubliche Kraft in seinen Bildern, Stimmungen und Rhythmen. Als ich 18 Jahre alt war, habe ich Offret (Opfer, SE 1986) im Kino gesehen. Das hat mich umgehauen. Damals habe ich nicht verstanden, worum es geht, aber die Wucht des Films war seine Sprache, das hat gereicht.“ Auch die Filme von Michael Haneke und Terrence Malick schätzt David sehr: „Tree of Life (US 2011) hat mein Leben verändert. Ich war immer schon ein sehr spiritueller Mensch, aber der Film hat in mir etwas losgetreten, was weder die Kirche noch meine sehr religiöse Mutter geschafft haben. Er hat mich dazu gebracht, mich mit der Frage auseinanderzusetzen, was nach dem Tod passiert. Ein Beispiel für die Macht des Films.“
Der Wunsch, selbst hinter der Kamera zu sein, sich Geschichten auszudenken und zu inszenieren, kristallisierte sich schon während Davids Schulzeit deutlich heraus. In der Oberstufe schrieb er bereits Kurzgeschichten und Treatments. Allerdings verfasste er nie Prosa, sondern meist kurze Szenen: „Ich habe immer in Bildern gedacht – für potenzielle Filmideen“, so David. Nach der Matura studierte er in Wien vier Semester Philosophie und Filmwissenschaften. Schon damals sah der Wiener mit südamerikanischen Wurzeln diese Studien als geistige Nahrung für sein Filmschaffen.
David Clay Diaz auf dem Podium an der HFF München.
Nebenher drehte David ein paar Kurzfilme mit Freunden. 2010 begann er als jüngster unter den Regiestudenten sein Studium an der HFF München. Er hatte sich nur dort beworben und wurde auf Anhieb genommen. „Ich war sehr schüchtern und dachte, dass es sowieso niemals klappt“, so David. Zunächst sei es ein Schock für ihn gewesen, als er erfuhr, dass er an der HFF anfangen konnte: „Eigentlich wollte ich in Wien bleiben. Aber im Nachhinein sehe ich, dass es wichtig für mich war, nach München zu gehen.“ Neben den Kurzfilmen Existentia (DE 2012, 20 min.) und Fragmente – Ein Traum von David Clay Diaz (DE 2013, 20 min.) drehte David dort seinen ersten Langfilm Agonie (AT/DE 2016, 93 min.), der zugleich sein Abschlussfilm werden sollte. Agonie (AT/DE 2016, 93 min.), bei dem er sowohl Regisseur, Drehbuchautor als auch Produzent war, feierte bei der 66. Berlinale Weltpremiere und wurde als „Bester Erstlingsfilm“ nominiert. Der Film kam im Herbst 2016 in die Kinos.
In allen seinen Filmen widmet David sich existenziellen Themen wie dem Umgang mit Schuld und Tod und der Frage nach dem Dasein Gottes. Es ist keine leichte Kost, die er dem Zuschauer vorsetzt. Eine düstere, traumhafte Atmosphäre dominiert die beiden Kurzfilme, in denen die Protagonist/innen sich jeweils in Krisensituationen befinden und mit Trauer und Schmerz konfrontiert werden. In Existentia geht es um einen Seelsorger, der angesichts des baldigen Todes der Mutter an seinem Glauben zweifelt.
„Sterben und die Fragen nach der Möglichkeit Gottes sind Themen, die mich schon sehr lange beschäftigen“, sagt David über den auf Super-16mm und in Schwarz-Weiß gedrehten 20-Minüter. „Ich glaube leider nicht an Gott, aber ich hoffe, dass es ihn gibt.“ Zur Recherche habe er sich mit einem Pfarrer getroffen und diesem Fragen gestellt. Aus diesem Gespräch sei dann das Drehbuch entstanden: „Ich habe den Pfarrer gefragt, wie ich mir selbst beweisen könnte, dass es Gott gibt. Er sagte: ‚Das ist, wie wenn du jemanden liebst. Das kannst du kognitiv auch nicht beweisen.‘ Diesen Satz fand ich extrem schön.“
In dem Kurzfilm Fragmente – Ein Traum von David Clay Diaz erfährt ein junger Mann, dass seine Mutter an Gebärmutterhalskrebs erkrankt ist, als er für ein Wochenende vom Studieren nach Hause kommt. David selbst spielt den Sohn, der mit einer Mischung aus schlechtem Gewissen und Verlustangst zu kämpfen hat. Die Idee zu dem 20-Minüter basiert auf einem Albtraum des Filmemachers, den er hatte, als er nach München gezogen war.
Trailer Agonie (AT/DE 2016, 93 min.):
Eine wahre Begebenheit, die sich im Bekanntenkreis des Regisseurs ereignete, inspirierte David zu seinem ersten Langfilm Agonie. Zu Beginn des Dramas verraten die eingeblendeten Zeilen den unausweichlichen Schluss: „Am 29. November tötet ein junger Mann seine Liebhaberin und zerstückelt die Leiche. Kopf, Torso und Gliedmaßen werden in verschiedenen Müllcontainern in Wien verteilt gefunden. Über das Motiv herrscht völlige Unklarheit.“
Die Kamera folgt zwei Protagonisten, die verschiedener nicht sein könnten: Der 17-jährige Alex ist ein bisschen prollig, konsumiert nach dem Pumpen im Fitnessstudio den obligatorischen Protein-Shake und scheut keine noch so unnötige Disco-Prügelei. Zuhause quält ihn sein Polizistenvater, und ob er vielleicht doch mehr für Jungs als für Mädchen empfindet, muss er erst noch herausfinden. Jurastudent Christian hingegen ist 24 Jahre alt, ehrgeizig und ziemlich verklemmt. Die wichtigste Prüfung verbockt er, und mit der offensichtlichen Verehrung seiner hübschen Kommilitonin kommt er nicht zurecht. Einer der beiden wird am Ende zum Mörder.
Kameramann Julian Krubasik und David Clay Diaz beim Dreh von Agonie.
„Ich kannte das Mädchen, das umgebracht wurde, über die Schule“, erzählt David. „Nicht besonders gut, aber sie wohnte nicht weit von mir entfernt. Dadurch hatte der Vorfall eine andere Wirkung auf mich und hat mich stärker berührt. Wir haben uns im Freundeskreis sehr viel darüber unterhalten.“ Ein spiritueller Moment ermutigte den Wiener, einen Film über den Mord zu drehen: „Im Vorbeigehen beobachtete ich zufällig die Mutter der Verstorbenen auf ihrem Balkon beim Wäscheaufhängen. Plötzlich erstarrte sie und blickte eine gefühlte Ewigkeit mit dem Kleidungsstück ins Leere. Dann war sie wieder wach, hängte weiter auf und verschwand ins dunkle Innere. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, ich spüre vielleicht, was sie spürt: Die Unfähigkeit zu verstehen, was es bedeutet, dass das Mädchen weg ist. Die Unfassbarkeit, dass ein Menschenleben ausgelöscht ist. Ich hab’ mir in dem Moment eingebildet, dass ich das mit der Mutter spüre. Das hat mich sehr beschäftigt.“
Die Männer treffen sich im Film nicht, haben aber mehr gemeinsam, als man denkt. Beide haben sich von ihrer Außenwelt abgekapselt und können ihre Bedürfnisse nicht kommunizieren. Das morbide Doppelporträt erzählt präzis und erschreckend von den vielfältigen Motiven und Nährböden für ein Gewaltverbrechen und von der Sprachlosigkeit junger Männer aus unterschiedlichen Milieus. „Wenn man nach Gründen für eine solche Tat sucht, besteht für mich die größte Gefahr darin, dass man eine Ursache hernimmt und sie für absolut erklärt. Dabei ist es immer ein Zusammenspiel von vielen Faktoren. Ich wollte kleinen Ursachen auch Raum im Film geben, wie z.B. zwischenmenschlicher Kälte“, so David.
Alex (Alexander Srtschin) in Agonie.
Christian (Samuel Schneider) nach der Tat in Agonie.
Die Idee mit den beiden Gegenspielern entwickelte sich daraus, dass der Regisseur eine weitere Begebenheit filmisch verarbeiten wollte: Ein ehemaliger Volksschulkollege hatte sich selbst mit einem Plastiksack erstickt, weil er angeblich die Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium nicht geschafft hatte. „Ich wollte beide Geschichten zur gleichen Zeit erzählen“, so David. „Die Gemeinsamkeit der beiden wahren Begebenheiten war für mich die Frage danach, warum es passiert, dass man jemand anderem oder sich selbst Leid zufügt. Es gibt immer mehr Gründe als die, die wir uns erzählen. Die kleinen Dinge sind es, die nicht in der Zeitung stehen.“
Für die Rolle des Jurastudenten besetzte David den Schauspieler Samuel Schneider, den er in Caroline Links Exit Marrakesch (DE 2013) gesehen hatte und dem das Projekt auch schnell zusagte. „Ich fand seinen Ausdruck sehr stark, seine Augen. Schmerz getarnt als Wut und mit einer gewissen Arroganz. Das passte perfekt für meinen Protagonisten“, so David. Alexander Srtschin, der den prolligen Alex spielt und niemals zuvor vor der Kamera stand, ist die große Entdeckung des Films, den David durch die Hilfe seiner Casterin Martina Poel fand. Überhaupt arbeitet David gerne mit demselben bewährten Team zusammen. In einem Projekt mit dem Arbeitstitel Das kürzeste Gedicht der Welt, das gerade in Zusammenarbeit mit der Filmproduktion coop99 entsteht, soll Srtschin wieder mitspielen und Martina Poel das Casting machen. In der Tragikomödie geht es um vier Österreicher, die sich zur Flüchtlingsproblematik positionieren.
Neben einer Romanverfilmung für Monafilm arbeitet David derzeit auch noch an der Drehbuchfassung eines Dramas mit dem Titel Gracias a la Vida, das mit der coop99, Walker+Worm Film und dem ZDF entsteht. David widmet sich mit der Mutter-Sohn-Geschichte autobiografischem Stoff: Eine Mutter ist für ihr Kind nach Österreich gezogen, er ist gut integriert, sie nicht. Loslösung und Scham spielen in dem Beziehungsgeflecht eine große Rolle. Das BKA Startstipendium hat der Filmemacher für eine weitere autobiografische Geschichte bekommen: In Thank you for nothing Mr. Clay erfährt ein junger Mann von seiner Mutter, dass der Vater die Familie für seine erste Familie in den USA verlassen hat. Daraufhin geht der Sohn auf Spurensuche und lernt seine Halbschwester kennen.
Premiere von Agonie auf der Berlinale 2016.
Dass Filmemachen auf jeden Fall sein Traumjob ist und wie sich Erfolg anfühlt, durfte David auf der Berlinale 2016 erfahren, wo Agonie in der Reihe „Perspektive Deutsches Kino“ lief. „Die Premiere war sicherlich einer der schönsten Momente meines Lebens“, so David über die Vorstellung, die innerhalb von wenigen Minuten ausverkauft war. Dass er es mit seinem Drittjahresfilm so weit geschafft hat, kann er selbst noch immer nicht glauben. Ein arbeitsintensives Unterfangen, bei dem er fast alles selbst machte und schließlich den Bayerischen Rundfunk mit ins Boot holte, war es auf jeden Fall. Zunächst hatte ihm sein Professor sogar verboten, den Film zu machen, da man als Drittjahresfilm eigentlich keinen Langfilm machen durfte. Auch das Budget von 40.000 Euro war viel zu gering, doch er boxte das Projekt bis zuletzt durch und reichte eine Rohfassung bei der Berlinale ein. Als David dann in der finalen Tonmischung saß, schickte ihm die Leiterin des Perspektive-Wettbewerbs eine Facebook-Freundschaftsanfrage. Eine persönliche Nachricht folgte: „Sie schrieb, dass mein Film ein toller Wurf sei und sie ihn auf der Berlinale zeigen wolle. Ich war überglücklich“, so David. Die Reise des Films ist noch nicht vorbei: Mitte November wird Agonie vom Verleih IndiePix auf DVD und VOD in den USA verbreitet.
„Ich brauche Futter, ich kann mir nicht alles selbst ausdenken.“
Einen Dokumentarfilm zu machen, würde David zwar reizen, vorstellen kann er es sich aber nicht wirklich: „Ich kann nicht einfach drauflos filmen, irgendwohin reisen und alles dem Zufall überlassen. Ich bin eher der Typ, der wochenlang sammelt und strukturiert, an der Pinnwand und nach ganz klassischen Drehbuchregeln. Die Gestaltungsfreiheit und die Kontrolle der Struktur, die man beim Spielfilm hat, reizen mich schon sehr. Man kann wirklich lange überlegen, warum man dieses Bild und die Einstellungsgröße wählt und nicht eine andere, und warum diese die richtige ist. Dieser Gedankengang macht mir große Freude.“
Über mangelnde Arbeit kann sich der 29-Jährige auf jeden Fall nicht beschweren. Derzeit entwickelt er mehrere Stoffe gleichzeitig, alles Spielfilme. „Aber alle haben einen Kern da draußen und hängen mit eigenen Erfahrungen oder Begegnungen zusammen“, so David. „Ich brauche Futter, ich kann mir das nicht alles selbst ausdenken, dafür habe ich nicht die Fantasie.“ Wenn David ein Projekt am Herzen liegt, dann zieht er es durch, mit Beharrlichkeit und vollem Einsatz, wenn es sein muss auch alleine. Seiner Lehrerin von damals würde er heute sagen: „Wenn ich etwas für den Rest meines Lebens mache, dann soll dieses von Bedeutung und Sinnhaftigkeit sein. Sonst kann ich es gleich sein lassen.“