„Am schönsten treibt’s die Fantasie!“
Georg Oberhumer, 1986 geboren und aufgewachsen in Graz, studierte zwischen 2006 und 2017 u.a. Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sowie Deutsche Philologie an der Universität Wien, Bildende Kunst an der Akademie der bildenden Künste Wien und künstlerische Fotografie am fotoK – Zentrum für Fotografie in Wien. Er war als Journalist, Lehrer und Notquartier-Betreuer tätig. Seit 2009 realisiert Georg freie künstlerische Arbeiten als (Dokumentar-)Filmemacher, Autor und Bildender Künstler. Für das Startstipendium 2020 hat er sich mit dem Spielfilmprojekt Keine Zeit für Zärtlichkeit beworben. Wir haben Georg ein paar Fragen zu seinem neuen Projekt und seiner Arbeitsweise gestellt.
In deinen Filmen begegnest du dir unbekannten Menschen, oft auch nur sehr flüchtig, wie in deinem Kurzfilm Fiction (2020, 5 min), in dem dir ein Taxifahrer (s)eine Geschichte erzählt. Was interessiert dich an den Personen, die du triffst und porträtierst, und wie willst du ihnen als Filmemacher begegnen?
Fiction ist entstanden, weil ich mit (dem Filmemacher, Anm.) Jan Soldat was am Laufen gehabt hab’, das “wertlose Filme” geheißen hat. Alle paar Tage hat jeder von uns was machen müssen, das ein Film genannt werden kann. Jan hat harte Sachen gemacht! Also hab’ ich Kamera, Geld, Herz in die Hand genommen und auf der Straße Taxler gefragt, ob sie mir „ihre Geschichte“ erzählen, während wir so weit fahren, wie man für 100 Euro kommt. Die ersten Zwei haben mich abblitzen lassen. Als Dritter ist Arnold in der Reihe gestanden. Nachdem ich mich erklärt gehabt habe, hat er gefragt: „Wollen Sie die wahre Geschichte wissen oder die interessante?“ Meine Antwort war: „Ich glaube, die wahre ist interessant genug.“ – „Na gut, steigen Sie ein!“
Worum geht es in deinem Spielfilmprojekt Keine Zeit für Zärtlichkeit, mit dem du dich für das Startstipendium beworben hast?
Es geht um eine Frau, die ihre erste und einzige Liebe spät und unvermutet kennenlernt. Mit 50 verliebt sie sich in ihre um einige Jahre jüngere Nachbarin. Die beiden gehen eine Beziehung ein, die Gelegenheit gibt, die Geschichte ihres Lebens zu erzählen. Sie fängt nach dem Krieg auf einer kleinen, verschwiegenen Landwirtschaft an, führt über verschiedene Stationen der Arbeiterinnenbiografie und folgt dabei dem Leitsatz: „Nie ein Kind, nie einen Mann!“ Was soll ich sagen, ich habe mich in diese Frau verschaut. Sie stellt etwas dar, das mich irre berührt. In unseren Gesprächen treten neben ihr Figuren wie die Jungfrau von Orléans, Alma Mahler und die Dohnal auf. Ich bin beschäftigt, ihnen das, was ich von meiner Mutter hab’, schamlos unterzujubeln und überzuwerfen.
In deinen Filmen – bspw. Herbststraße (2020/21, ca. 45 min) über einen rumänischen Arbeiterstrich in Wien oder Wärmestube (2019, 84 min) über einen Zufluchtsort für Schutzbedürftige in Graz – beobachtest du Menschen, die du nicht kennst. Bei Keine Zeit für Zärtlichkeit geht es um eine Frau, die du während eines Drehs kennengelernt hast und deren Lebensgeschichte du mittlerweile sehr gut kennst. Ändert sich dadurch deine Vorgehensweise?
Wenn ich einen Film machen will, dann weil ich meine, der Mensch, den man darin sieht, ist verschieden von mir wie ich. In seinem Gesicht, in der ganzen Gestalt, Sprache vermute ich, die ideale Darstellung dessen zu erkennen, was einen Teil meines Daseins ausmacht, das wiederum zur Darstellung zum Beispiel eines Teiles deines oder unser aller Daseinsens dient: Die Menschen in der Wärmestube waren genötigt, nichts zu tun, nur dazusitzen, sich gut zuzureden und ihre Auflösung abzuwarten. Da ist wichtig, dass zu gewissen Tageszeiten ein planbares Ereignis eintritt (Frühstück, Mittagessen, Gebet etc.). Also komme ich auf metaphysische Gedanken, klopfe an und bin erschrocken, wenn wer aufmacht. Das heißt, ich merke, es sind Menschen, denen ich begegne, und muss das dann aushalten. Wahrscheinlich bin ich vor Schreck in sie verliebt.
Still aus Herbststraße (2021, ca. 45 min).
Still aus Wärmestube (2019, 84 min).
Keine Zeit für Zärtlichkeit wäre die erste Geschichte, die du als Film nicht dokumentarisch bearbeitest, sondern als Spielfilm drehen willst. Warum?
Wir machen uns Vorstellungen vom Leben, denen wir nachgehen. Es ist nicht mein Wunsch, sie direkt verwirklicht zu sehen. Den Menschen aber mag ich mir vor Augen führen, der ihnen folgt oder versucht, sich mit ihnen abzufinden. Ich habe Glück, dieser Frau gegenüberzusitzen, ihr in die Augen, auf ihre Hände zu schauen. Sie sagt, dass es ihr die Sprache verschlägt, während ich ein Bild davon bekomme, wie diese oder jene Szene ihres Lebens gewesen sein könnte. Es war wohl so von Bildern bestimmt, die ihr in den Kopf gekommen sind, wie sie das eine oder andere erlebt hat. Was sie darüber sagen kann, ist, was sie davon weiß. Beim Schreiben erkenne ich, was in der Geschichte, wie sie sie erzählt, aber fehlt. Und wenn sie inszeniert wird, wird sich zeigen, wie sich die Dürftigkeit meiner Idee von ihr dokumentiert.
Obwohl in deiner Bewerbung die Geschichte sich als eine solche liest, sagst du, du willst keine „Nachkriegssaga“ drehen. Wie möchtest du den Stoff angehen?
Es wird kein Budget für so viel Kostümmeter geben, wie wir für so eine Zeitreise bräuchten. Deshalb habe ich geschrieben, ich will keine „Nachkriegssaga“ drehen, damit die Jury nicht denkt, dass ich wahnsinnig wäre. Ehrlich gesagt aber weiß ich noch nicht, in welche Form der Stoff zu bringen ist. Mir fallen da schon Arten ein, ihn so oder so zu falten, aber ich warte noch auf den entscheidenden Wurf. Wahrscheinlich, so die Idee, werden es enge Innenaufnahmen sein, um den Aufwand zu vermeiden, den weitere machen. Das ist der Spaß am Drehbuchschreiben, diese Dinge mitzudenken. Der Dramaturg in mir sagt, dass ich die Geschichte verdichten muss, zum Beispiel die Beziehung nur nehmen, den Rest gib weg! Der spinnt, find’ ich.
In welchem Stadium befindet sich das Projekt Keine Zeit für Zärtlichkeit derzeit und was glaubst du, wird in den nächsten Schritten die größte Herausforderung?
Das Projekt befindet sich in der Stoffentwicklungsphase. Das bedeutet Drehbuch schreiben. Es liegt inzwischen ein Treatment vor und von manchen Szenen eine erste, ausgearbeitete Fassung. Und neben dem Problem, mit der Zeit umzugehen, stehe ich vor lauter Lücken, die zu füllen sind. Die Recherche ist zu Ende. Es wird immer leerer. Je mehr mir von der Geschichte erzählt wird, desto weniger weiß ich, wie es war. Also muss ich anfangen, selbst zu formulieren. Ich weiß nicht, wer was wann wie genau gesagt oder getan hat. Manches ist mir mitgeteilt worden, den Rest kenn’ ich erst, wenn ich das Ganze geschrieben hab’. Dabei bleibt mir nichts übrig, als das, was als Biografie sich präsentiert, in die Geschichte des Konflikts zu verwandeln, dessen Lösung das Leben gelebtermaßen darstellt.
Du hast auf der Akademie der bildenden Künste bei Thomas Heise studiert und ihm auch für seinen Dokumentarfilm Heimat ist ein Raum aus Zeit (2019) in Vorbereitung und Regie assistiert. Verbinden euch ähnliche Denk- oder Arbeitsweisen?
In Abwandlung eines Zitats kann ich sagen: Thomas Heise war und ist mir Anschauung, Beweis, dass die Existenz des Filmemachers unmöglich ist. In zweierlei Hinsicht: Erstens indem sie aus einem Gefühl von Unzugehörigkeit entsteht, genauso wie sie diese bewirkt. (In Das unmögliche Bild von Sandra Wollner (2016) wird eine Filmende genötigt, die Kamera wegzulegen, um sich mit den anderen an den Tisch zu setzen. Sie sagt, man könne entweder filmen oder essen.) Es ist aber keine Entscheidung. Unsere Existenz erweist sich zweitens als ebenso unmöglich, wie sie notwendig ist. Ich habe gedacht, dass ich wählen könnte, welche Richtung und welchen Zug ich nehme. Derweil bin ich mitgerissen worden von einer Lokomotive. Zerfetzt. Es war Thomas. Dank ihm für diese Wohltat!
Ausstellungen, Hörspiel, Prosa, Filme … oder wie du dein Schaffen in deinem Portfolio beschreibst: „Film Ton Foto Text Objekt“. Du verarbeitest die Geschichten, die du erzählen willst, in verschiedenen Kunstformen. Was macht für dich die Filmform so spannend?
Vergiss, ich mach Filme jetzt. Wieso? Weil ich ein Spanner bin. Ich liebe es, wem zuzusehen. Es ist geil, ein Bild davon zu bekommen, wie wer was macht. Am schönsten treibt’s die Fantasie! Ich soll mir das entgehen lassen? Mal ehrlich: Sieht man nicht in Filmen von Melville, wie man eine Bank ausraubt, wie sich Widerstand organisiert? Ich finde das brauchbar. Jan Soldat zeigt zum Beispiel, wie fisten funktioniert. Und bei Bresson beobachten wir, wie man wem was aus der Tasche zieht, wie man aus einem Gefängnis flieht, sich in Freiheit begibt. Vielleicht schaut’s auch nur so aus, als sei das zu sehen. Bresson trickst wie sein Dieb und lässt uns durch die Finger schauen: Bankschalter Arschloch Gefängnisfenster. Wer hindert mich?
Du hast zu unserem Fotoshooting als Objekt ein Paar Schuhe mitgenommen. Warum?
Die Schuhe hab’ ich gekauft, bevor wir besagten Film von Thomas Heise gedreht haben. Das war im Februar. Eisig. Ich bin in den Pausen spazieren gegangen, Gegend erkunden, durch Wald, Feld, Wege entlang, aber immer und überall unbekannt. Wie im Gestöber. Öfter mal hab’ ich mich verrannt und hie und da was entdeckt, das dann auch gefilmt worden ist. Ins Bild gesetzt ist aus dem Umkreis meiner Atemlosigkeit eine Landschaft entstanden. Also würde ich sagen, dass ich hinaus- und herumgehen muss, um einen Film zu machen. Am weitesten reicht aber – das weiß ich inzwischen für mich – der kleinste, gedankliche Schritt. Ich muss nicht nach Mecklenburg, um festzustellen, fremd zu sein. Meinen Nanook – ich höre immer „Nanu?“ und muss an ein Kinderspiel denken – kann ich auch zuhause drehen. Da fröstelt’s genug.