Aufrichtig erzählen
Ob Ahmet, der in Schattenboxer zum Anti-Gewalt-Training muss. Oder Student Max in Daheim und Dazwischen, dessen Besuch im Elternhaus zu einem längeren Aufenthalt werden könnte. Oder die 17-jährige Coco aus WANNABE, die mit ihrem YouTube-Kanal „Coco Channel“ im Netz beliebt und berühmt werden will. Den Fokus legt Jannis Lenz in seinen bisherigen Regiearbeiten auf Porträts junger Menschen. Darauf angesprochen, fällt das Wort „aufrichtig“. Die Geschichten junger Leute, sagt der Startstipendiat, könne er aufrichtig erzählen.
Würde man den Figuren aus seinen Filmen nur kurz begegnen, erschienen sie einem als unsympathische Charaktere. Oder zumindest schwer zugänglich. Das sagt Jannis Lenz beim Gespräch im Wiener Café Rüdigerhof. Das Verhältnis zwischen Zuschauenden und Hauptfigur gestaltet sich in seinen bisherigen Kurzfilmen allerdings genau umgekehrt: Binnen weniger Szenen wird etwa Ahmet in Schattenboxer (2015, 18 min) zum Sympathieträger. „Genau das interessiert mich“, sagt Jannis, Regie-Student an der Filmakademie Wien.
„Ich glaube nicht, dass es Gut und Böse gibt. Weder im Leben noch in der Kunst oder sonst wo. Mich interessieren Figuren, die sonst von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden und die mit Vorurteilen beladen sind.“
Jannis bei der Preisverleihung der Diagonale 2015, als er mit Schattenboxer den Preis für Bester Kurzspielfilm erhielt (© Diagonale/Patrick Winkler).
Auf allen Kanälen
Die härteste Vorbereitung bislang war die Recherche für das multi- und transmediale Projekt WANNABE (2016, 30 min). Im Zentrum steht die fiktive Figur Coco, die mit ihrem YouTube-Kanal und ihrem Social-Media-Auftritt berühmt werden will. Herzstück des Projekts ist der 30minütige Film WANNABE.
Jannis tat sich anfangs schwer, Sympathien für die Welt der YouTuberInnen und deren Kanäle zu entwickeln. Über einen freundschaftlichen Zugang getarnt, manipulieren dort die videobloggenden Mädchen ihre FollowerInnen des Öfteren. Die Idee, in diese Welt der YouTube-Channels einzutauchen, deren Ausmaß für Erwachsene und Erziehungsberechtigte weitgehend unbekanntes Terrain ist, habe sich über einen langen Zeitraum entwickelt.
Nicht nur amerikanische YouTube-UserInnen nahmen Cocos Videos „for real“. Dabei deklariert Jannis Lenz die Videos immerzu als Teil eines Kunstprojekts:
Bei Castings für seinen ersten Film an der Filmakademie ist Jannis sehr vielen jungen Menschen begegnet, die keine Schauspielerfahrung hatten. Er wollte wissen, was sie an Schauspiel interessiere. Die Antworten waren verblüffend. „Ich habe gemerkt, dass es ihnen oft nicht darum geht, ein gewisses Talent mit anderen Menschen zu teilen, sondern dass es um dieses Berühmtwerden an sich geht und darum, wahrgenommen zu werden. Das fasziniert, weil dieser Wunsch nach Aufmerksamkeit für mich schwer nachzuvollziehen war.“ WANNABE dreht sich um Selbstreflexion und Selbstpräsentation. „Inwiefern manipuliere ich letztere?“, so Jannis.
Teaser zu WANNABE:
Castings und Einstellungen
Castings sind für Jannis Lenz ein wesentlicher Teil seines Arbeitsprozesses. Sie sind eine Vorstufe zur Entwicklung des Films. Vielfach greift der Regisseur Szenen, die er bei Castings geprobt hat, bei den Dreharbeiten auf. „Das ist ein ständig wachsender Prozess“. Jannis arbeitet mit Treatments und Improvisationen. „Das Drehbuch ist dann fertig, wenn der Film fertig ist“, sagt er, der auch nicht davor zurückschreckt, Geplantes am Set zu verändern. Die Dramaturgie bei Schattenboxer ergab sich aus der Situation am Set. „Ich fand andere Sachen viel interessanter, als das, was ich zuvor geschrieben hatte“.
Meist dreht Jannis mit „Nicht-Schauspielern“. Laien sind sie nur bis zum Drehbeginn. Denn den HauptdarstellerInnen in Daheim und Dazwischen, Schattenboxer und WANNABE merkt man nicht an, dass sie vor der Zusammenarbeit mit ihm nicht professionell schaugespielt hatten. Allerdings spielen sich die Improvisationen binnen jenes Rahmens ab, den Jannis vorgibt. Und der ist besonders durch eine exakt geplante Führung der Kamera bestimmt.
Wunderschön ist zum Beispiel, dass in Daheim und Dazwischen (2014, 25 min) eine nächtliche Szene der jungen Menschen unterwegs nach einem Sprung über eine Mauer unter Wasser beginnt. Man ahnt und will, dass sich hinter dieser Mauer ein Freibad befindet. Jannis Lenz lässt sie nicht ins Wasser springen, sie sind schon drinnen, als wir zuschauen.
Dreharbeiten zu Daheim und Dazwischen: „Die Aufnahme zeigt die größte Szene, die ich bis jetzt gedreht habe. Das war meine erste freie Arbeit an der Filmakademie. Kameramann Jakob Fuhr und ich waren sehr gut vorbereitet. Doch wir haben spontan beschlossen, die gesamte Szene von Anfang bis Ende in einem Take dokumentarisch durchzufilmen. Das war für mich in meiner Arbeitsweise ein Durchbruch, da ich mich von dieser schulischen Herangehensweise gelöst habe. Es war auch der Moment, wo ich gemerkt habe, dass Jakob und ich sicher noch öfter zusammenarbeiten werden, weil ein großes Vertrauen zum jeweils anderen da war und wir bereit waren, dieses Risiko einzugehen und im schlimmsten Fall gemeinsam zu scheitern. Die Schauspieler kannten die Abläufe und wichtigen Punkte, auf die es in der Szene ankommt, konnten sich aber sonst vollkommen frei bewegen. So sind dann 3 Takes zu jeweils 15 Minuten entstanden, aus denen Alexander Rauscher und ich im Schnitt gemeinsam die Szene gebastelt haben. Weil niemand wusste, wohin sich die Schauspieler bzw. die Kamera bewegen, war oft das Team im Bild, aber das hat sich bei dem Chaos verspielt.“
Als würdest du fliegen
Von den Bildern in Schwerelos (2016, 9 min) löst man sich schwer. Inzwischen ist das Werk auf 50 Festivals gelaufen. Dabei taten sich etliche Interessierte anfangs schwer, diesem Kurzfilm über Parkour ein Label aufzudrücken. Der Film hat eine geradezu tanzende Qualität, nicht zuletzt durch die herausragende Kameraarbeit von Carolina Steinbrecher, Florian Hatwagner und Jannis selber. Die ProtagonistInnen erweisen sich über ihre Bewegungen als Persönlichkeiten. Sie verständigen sich durch Körpersprache. Viel zu schnell ist der Kurzfilm aus.
Still aus Schwerelos.
Jannis hat Parkourlauf selbst sieben Jahre lang ausgeübt, vier Mal die Woche. Schon 2014 realisierte er mit Freistil (siehe Spalte rechts) quasi einen Vorläufer für seinen zwei Jahre später folgenden Kurzfilm. Seine Herangehensweise bei Schwerelos war, Parkour selbst gerecht zu werden: Die Fortbewegungsweise ist eine besondere Weise, sich im urbanen Raum zurechtzufinden und sich mit Stadt als Lebensraum auseinanderzusetzen.
Und dann ist da der philosophische Aspekt: Der Grundgedanke von Parkour ist, Hindernisse als kreative Möglichkeiten zu sehen, an denen man sich abarbeiten kann, so Jannis. „Für mich ist Parkour eine Form stillen Protests. Ihr wollt, dass ich da und da lang gehe – okay. Aber ich mache da nicht mit, ich springe da einfach quer drüber. Parkour tut keinem weh und ist eine Art Performance im öffentlichen Raum.“
Auf Förderungen für Schwerelos hat er verzichtet, um ohne Deadlines arbeiten zu können. „Das war ein ziemlich befreiendes Erlebnis. Wir haben mit Kameras von Freunden gedreht. Ich habe gesehen, wie man auch Filme abseits eng gestrickter Pläne machen kann. Im Endeffekt hat der Film das Zugticket nach Zürich gekostet.“
Bei den Dreharbeiten zu Freistil.
Doch ist das nicht ein sehr neoliberales Konzept? Könnte er sich vorstellen, einen Spielfilm so umzusetzen? „Bei einem Spielfilm könnte bzw. wollte ich so nicht arbeiten müssen“, sagt Jannis. „Für ein Studentenprojekt finde ich es ok, so etwas mal als Experiment zu probieren. Wenn es anders möglich gewesen wäre, hätte mir das auch besser gefallen. Ich finde es grundsätzlich eine gute Sache, dass jeder alles machen kann, denn dann geht es nicht mehr um die Technik, sondern die Ideen rücken wieder in den Vordergrund. Ich finde es total schön, dass es nicht mehr einer bestimmten Elite vorbehalten bleibt, Filme zu machen. Jeder kann mit seinem Handy wirklich gute Sachen machen. Und wenn man etwas gemeinsam macht, hat man gemeinsam etwas davon. Ich teile es ja mit den Leuten, wenn wir etwas gewinnen. Wir gehen essen – viel mehr geht oft auch gar nicht!“
Festivalerfahrungen: „Bei meiner ersten größeren Jury-Tätigkeit beim James Cinefest: Ehrengast war Claudia Cardinale, die mir aber meine Unsicherheit und Berührungsängste genommen hat, indem sie mich gleich mal freundschaftlich getätschelt hat. Ich war dort neun Tage und musste über 40 Kurzfilme und Dokus schauen. Geendet hat das Festival damit, dass wir gemeinsam mit Gaspar Noé, der am letzten Abend seinen neuen Film Love beim Festival präsentiert hat, in einer ziemlich trashigen, ungarischen Vorstadtdisko mit jeder Menge Bier und Whiskey gelandet sind. Diese Jury-Erfahrung war extrem spannend, weil ich diesen ganzen Festivalzirkus mal von der anderen Seite beobachten konnte und viele Dinge und Entscheidungen, die mich sonst als Filmemacher betreffen, viel besser nachvollziehen konnte.“
Jannis Lenz, 1983 in Filderstadt geboren, ist von Stuttgart zum Studium der Theaterwissenschaften nach Wien gezogen, bald und mit 25 wechselte er an die Filmakademie. Der Sohn einer Lehrerin und eines Musikers hat sein Abitur auf einem Wirtschaftsgymnasium gemacht, nachdem sehr vieles seine Aufmerksamkeit und Neugier als Kind und Jugendlicher weckte, bloß nicht der reguläre Schulbetrieb. Die Begeisterung für Film aber muss schon früh da gewesen sein. Und das, obwohl es zuhause keinen Fernseher gab.
Erste Drehbücher aus der Kindheit: „Weil es keinen Fernseher gab, habe ich als Kind meine eigenen Geschichten am Papier entwickelt und dann nachgespielt. Das klingt jetzt rückblickend ganz nett, damals hätte ich mich aber sicher für den Fernseher entschieden.“
„Als kleines Kind war ich eine Zeit lang scheinbar total fixiert auf Batman, weil da ein neuer Film rausgekommen ist. Weil ich aber zu klein war, um den Film im Kino anzuschauen, habe ich alles, was ich in Zeitschriften zum Thema finden konnte, ausgeschnitten und gesammelt und dann anhand dieser Schnipsel selbst Kostüme und Waffen aus Pappe, Holz und Stoff gebastelt. Meine kleine Schwester musste als Spielpartnerin herhalten, jedenfalls gab es Fotos von ihr, wie sie mit knapp zwei Jahren mit mir als Ninja, Ritter und Clown verkleidet war, wo sie sich selbst wohl gar nicht hätte verkleiden können. Wir haben dann versucht, was ich mir aus diesen gesammelten Zeitungsschnipseln und Bildern zusammenreimen bzw. ausspinnen konnte, nachzuspielen, auch gemeinsam mit meinem Cousin und den Nachbarskindern.“
Seine ersten eigenen Filme realisierte Jannis als Jugendlicher aus einem Wunsch heraus: schon damals wollte er Parkour-Abenteuer mit seinen Freunden festgehalten. Bei einem Praktikum in einer Filmproduktion konnte er nach getaner Arbeit seine eigenen Videos schneiden.
Film leben
Er sei unglaublich schlecht darin, Sachen aus der Theorie oder aus Büchern zu recherchieren und sich Themen so zu nähern, behauptet der Filmemacher. „Ich muss mich dem selber aussetzen und das dann machen. Wenn ich drehe, lebe ich das oft mit. Der Dreh von Schattenboxer war der lockerste und angenehmste, den ich jemals hatte und hat mir sehr viel Spaß gemacht. Bei der Entwicklung – also im Schreib- und Ideenfindungsprozess sowie in der Vorbereitung für die Schauspielführung – habe ich versucht, meine Wut, wenn ich alleine war, zuzulassen und versucht, diese zu erforschen, wenn ich sie gespürt habe.“
Seit seinem neunten Lebensjahr übt Jannis Kampfsport aus, er war also zum Zeitpunkt der Dreharbeiten mit der Materie sehr vertraut. Bei Schattenboxer habe ihn die Zweischneidigkeit beschäftigt. „Wie ich Kampfsportarten kenne, haben sie mit sehr viel Disziplin zu tun, aber auch mit Spiritualität. Auf der einen Seite lernt man, auch gezielt Menschen zu verletzen. Das finde ich spannend: Wir Menschen haben die Entscheidung, wie wir mit Dingen und mit unseren Fähigkeiten umgehen und wie wir sie nutzen.“
Still aus Schattenboxer.
Jannis Lenz lädt das Publikum ein, doch mal hinzusehen, was sich um sie herum tut. Und er macht das mit beeindruckender Leichtigkeit und Ungezwungenheit. Es ist schwieriger, sich dem Nahen zu stellen, als zum Beispiel nach Aserbaidschan zu fahren und dort zu drehen, weil die für uns exotische Landschaft und die Gesichter schnell beeindrucken. Dieser Zugang liegt ihm nicht.
„Ich will“, sagt Jannis, „mich den Themen nicht als Außenstehender nähern und irgendein Bild dazu zeigen, weil mir die Zugänge dazu fehlen. Ich glaube, dass man da immer nur an der Oberfläche kratzt.“ Genau auf Zustände zu sehen, die uns umgeben, ist ohnehin oftmals die größte Herausforderung.
von Maria Motter, im November 2016
Fotos zur Verfügung gestellt von Jannis Lenz
Portraitbild oben: steffi dittrich photography
Filme bei sixpackfilm
Jannis Lenz auf Vimeo