Lisa Zoe Geretschläger| Editorin
Porträts

Lisa Zoe Geretschläger| Editorin

Juni 2021

„Es sind immer auch ‚meine‘ Filme“

 

„Ich wurde eigentlich immer von anderen empfohlen“, ist Lisa Zoe Geretschläger selbst etwas verwundert darüber, wie reibungsfrei ihr Berufsweg bisher verlief. Mit 18 Jahren kam sie aus Graz nach Wien, um am Filmcollege zu studieren. 13 Jahre später ist sie eine gefragte Editorin, die nicht nur für Kolleg*innen ihrer Generation Filme montiert, sondern auch für Namen wie Sabine Derflinger. Auf der Diagonale’21 ist Lisa gleich mit drei Filmen vertreten, im Juli könnte eine Auszeichnung beim Österreichischen Filmpreis winken.

Lisas Geschichte erzählt sich anfänglich so wie die vieler anderer, die später einmal Filmemacher*in werden: früh in der Jugend mit der Mini-DV-Kamera der Eltern alles Mögliche gedreht, sich mit dem Windows Movie Maker rumgeschlagen, Geld angespart, um sich ein MacBook und die Final-Cut-Software zu kaufen, zum Thema Drehbuch maturiert. Dass sie Film studieren könnte, daran dachte Lisa aber nicht. Es war ihr Vater, der meinte, sie soll es doch mit einem Filmstudium probieren, wenn sie schon so eine Leidenschaft fürs Filmemachen zeige. Und so bewarb sich Lisa, zu dem Zeitpunkt 17 Jahre jung, bei der Filmakademie Wien und wurde – wie es vielen anderen frischen Student*innen beim ersten Anlauf ebenso ergeht – nicht genommen. Viele fangen dann an, das geisteswissenschaftliche Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaften zu studieren, um es in weiteren Anläufen nochmals mit dem Filmstudium zu probieren. Lisa aber wollte gleich in die Praxis: Sie bewarb sich auch am damals noch recht jungen und mittlerweile nicht mehr existierenden Filmcollege Wien. Da sie in einem, wie Lisa sagt, „tollen Jahrgang“ war, gab es für sie keinen Grund, ihre Studienwahl zu hinterfragen oder es vielleicht doch noch einmal bei der Filmakademie zu versuchen.

Ursprünglich wollte sie Schnitt und Regie machen. Für letzteres Fach hatte Lisa sich auch bei der Filmakademie beworben. Im Laufe des Studiums aber fokussierte sich ihr Interesse immer mehr auf die Filmmontage. „Im Studium haben wir im ersten Jahr in allen Spezialisierungen gearbeitet“, sagt Lisa. „Drehbuch war beispielsweise überhaupt nicht meins. Vor einem leeren Blatt Papier zu sitzen und sich zu fragen: Was erzähl ich denn jetzt? Da habe ich mir schwer getan. Aber wenn es existierendes Material gab, und ich das formen durfte … Da war ich in meinem Element. Ich hab sehr schnell gemerkt, dass ich das weitermachen möchte.“ Ihr Diplom 2014 machte Lisa dann auch nur in Schnitt.

Die Anfänge: Lisa (mit Hut) dreht im Alter von zwölf Jahren gemeinsam mit ihrer Freundin Astrid Perz den Film Mädchen und Räuber. Aus Lisa wurde eine hauptberufliche Editorin, Astrid ist heute Schauspielerin.

Zwölf Jahre später: Lisa (Mitte) mit Filmteam und ihren Studienfreund*innen Alexandra Makarová (ganz links), Georg Weiss (rechts von Lisa) und Sebastian Schmidl (ganz rechts) beim Q+A zu SOLA bei der Diagonale 2014. © Diagonale / Lukas Maul

Während des Studiums formte sich ein freundschaftliches Kollektiv, in dem Lisa (Montage) gemeinsam mit Alexandra Makarová (Buch, Regie), Sebastian Schmidl (Buch, Regie) und Georg Weiss (Kamera) ihre Filme realisierte. Das Studium selbst diente vor allem dazu, sich ein Netzwerk aufzubauen und sich die Filmpraxis neben dem theoretischen Unterricht auch im Learning by Doing anzueignen. Bereits Schnitt-Kollege Roland Stöttinger meinte im Cinema-Next-Porträt, dass man Schnitt, abseits des Technischen, weder beibringen noch erlernen könne. „Da hat er nicht ganz unrecht“, sagt Lisa zur Meinung ihres Kollegen. Sie habe zwar auch all die Schnittbücher gelesen, die man lesen sollte, und schätze viele ihrer Montagekolleg*innen für das, was sie machen – wie Karina Ressler oder Joana Scrinzi, für die Lisa seit 2013 immer wieder als Schnittassistentin arbeitete (bei Kater [2016] oder Gwendolyn [2017]). „Aber ein Gespür für Rhythmus zu kriegen oder dafür, wie man eine Geschichte am besten erzählt, kann man schwer von anderen lernen.“

Nach den Filmen, die sie im Rahmen des Studiums realisierte – An einem anderen Tag (2012, 30 min), SOLA (2013, 20 min, beide Filme Regie Alexandra Makarová) und Lisas Abschlussfilm Liebling (R: Sebastian Schmidl, 2014, 42 min) –, nahm Lisas Karriere Fahrt auf. „Ich hatte eigentlich großes Glück, wurde immer von Projekt zu Projekt weiterempfohlen“, meint Lisa, die sich aber als „hart arbeitend, interessiert, engagiert und motiviert“ beschreibt. Qualitäten, die sich offenbar rumsprachen. So kam es 2015 zum Anruf von einem jungen Wiener Filmemacher, David Clay Diaz, der an der HFF München studierte und dort einen Regie-Übungsfilm, AGONIE, als Langfilm realisieren wollte (und der dann 2016 bei der Berlinale im Wettbewerb Perspektive Deutsches Kino die Uraufführung erfahren sollte). David wollte den Film in Wien schneiden, wie er auf ihren Namen kam, weiß Lisa nicht mehr genau. Jedenfalls schickte David Lisa nach ihrem Telefonat ein paar Szenen vom ersten Drehblock, Lisa zeigte Interesse und ohne dass sich die beiden zunächst einmal trafen, um über Visionen und Zugänge zu sprechen, stand David schon mit Festplatten vor Lisas Tür.

AGONIE erzählt die (von wahren Begebenheiten inspirierte) Geschichte eines jungen Mannes, der seine Liebhaberin tötet und ihre Leiche zerstückelt. Im Film wird diese brutale Geschichte über eine Parallelmontage zweier junger Menschen in sehr präzise gesetzten und eher ruhigen Bildern erzählt. Wie geht man den Schnitt eines Films an, bei dem gefühlsmäßig alles genau ‚sitzt‘? „Bei AGONIE war es tatsächlich so, dass David eine sehr klare Vision hatte, wie der Film ausschauen soll“, beschreibt Lisa die Zusammenarbeit. „Da war formal schon sehr viel vorgegeben. Aber es kann ja wahnsinnig spannend sein, sich innerhalb gewisser Regeln und Vorgaben auszutoben und zu schauen, wie man es hinkriegt, die Geschichte am besten zu transportieren. Sich einzubringen heißt ja nicht gleich, dass man gegen eine vorgegebene Form rebellieren muss.“

Bei Davids zweitem Spielfilm Me, We (2021, 115 min), der auf der Diagonale’21 laufen wird und vier Geschichten verwebt, die von Flucht, Migration und Europas Umgang damit erzählen, war das ein wenig anders: „Es wurde viel mehr gedreht, viel bewegter erzählt. Da war wahnsinnig viel tolles Material vorhanden, und wir mussten sehr viel kürzen, um auf eine akzeptable Filmlänge zu kommen.“

Eine besondere Herausforderung bei den weiteren Spielfilmen, die Lisa montierte, Zerschlag mein Herz (R: Alexandra Makarová, 2018, 99 min) und LOVECUT (R: Iliana Estañol & Johanna Lietha, 2020, 94 min), war die Arbeit mit Laiendarsteller*innen. „Gerade bei Laiendarsteller*innen geht es in der Montage auch oft darum, das Schauspiel so natürlich und gut wie möglich rüberzubringen“, sagt Lisa. Bei Zerschlag mein Herz, einem farbsatten und fast schon Bollywood-esken Liebesdrama über eine Gruppe in Wien bettelnder slowakischer Roma, war Lisa von Anfang an in den Prozess involviert, hat während des Drehs schon gesichtet und konnte so noch Feedback geben, falls sich einzelne Elemente nicht wie erwünscht erzählten. Bei LOVECUT kam das Material bereits vollständig abgedreht in Lisas Hände. Sie hatte den bereits länger dauernden Montageprozess von Sebastian Longariva übernommen, der ein anderes Projekt am Start hatte. Im erfrischenden Regiedebüt begleiten wir episodenhaft drei Geschichten junger verliebter Teenager*innen in Wien. „Wir standen vor sehr vielen Fragen“, sagt Lisa. „Welche Szenen kommen rein? Wann zeigen wir welches Paar? Erzählen wir mehrere Szenen vom selben Paar hintereinander, oder wechseln wir im gleichen Rhythmus zwischen den Paaren? Gehen Personen ‚verloren‘, weil man sie und deren Geschichte vergisst?“ Die herausfordernde Montagearbeit mit dem (meist Laien-)Schauspiel merkt man dem Film aber nur in wenigen Szenen an: Wie vor allem die jungen Schauspieler*innen agieren und aufeinander reagieren, ist beeindruckend und toll anzusehen. Zu Recht, aber für Lisa völlig unerwartet, wurde die Montagearbeit für den Österreichischen Filmpreis, der im Juli vergeben wird, nominiert.

Der frühe und auch anhaltende Einbezug des*der Editor*in sei sehr wichtig, sagt Lisa, passiere aber leider noch zu selten. „Als Editorin hat man natürlich ziemlich genaue Anforderungen an gewisse Szenen. Daher ist es mir auch ein großes Anliegen, dass ich beispielsweise bei Sounddesign, Mischung wie auch VFX und Grading soweit involviert bin, dass ich noch Feedback geben kann.“ Das sei auch ein Anliegen des Verbands aea – Austrian Editors Association, dem Lisa auf Empfehlung von Karina Ressler beitrat und bei dem Lisa nun Vorstandsmitglied ist.

Lisa (rechts) sitzt gemeinsam mit David Clay Diaz, Thomas Pötz und Rudolf Gottsberger in der Mischung von Me, We © Rudolf Gottsberger

Die Arbeit an Dokumentarfilmen findet Lisa ebenso spannend wie die am Spielfilm. Bei manchen Projekten hat sie das Material bereits vollständig abgedreht erhalten – wie bspw. bei ihrem ersten Kinodokumentarfilm Late Blossom Blues (R: Wolfgang Pfoser-Almer & Stefan Wolner, 2016, 89 min) über den spät entdeckten US-Bluesmusiker Leo „Bud“ Welch oder bei Das erste Jahrhundert des Walter Arlen (R: Stephanus Domanig, 2018, 91 min) über den 1938 aus Wien vertriebenen und später international erfolgreichen Komponisten. Bei anderen Projekten konnte sie den Drehprozess noch (zumindest teilweise) mitbegleiten – wie bei den zwei Filmen, die gerade ihre Weltpremiere beim DOK.fest München gefeiert haben: EVA-MARIA (R: Lukas Ladner, 2021, 93 min, Österreichpremiere auf der Diagonale‘21), in dem es um eine Frau im Rollstuhl geht, die ihren Kinderwunsch erfüllen möchte, und Die Kunst der Folgenlosigkeit (R: Jakob Brossmann & Friedrich von Borries, 2021, 67 min), einer zwischen Spiel- und Dokumentarfilm changierenden Überlegung, was Kunst sein und bewirken kann.

Bei allen Projekten geht Lisa die Montagearbeit immer ähnlich an. Der erste Schritt, sagt sie, sei natürlich das Sichten des Materials („wenn zeitlich und budgetär möglich, sichte ich immer das gesamte Material, auch das, was vielleicht als nicht so relevant betrachtet wird“). Begleitend dazu liest sich Lisa auch in Konzept und Drehbuch ein („Ich möchte die Vision der Regie so gut wie möglich kennen; mein Input basiert ja auf dieser Vision und was das Material mir erzählt“). Beim Sichten werden im Material Marker gesetzt bzw. macht sich Lisa zu jedem Take Notizen („Dafür hab ich ein Punktesystem, mit dem ich Takes bzw. Szenen bewerte“). Dann wird geschnitten, gebaut, montiert. Da sei oft wichtig, „den Film zunächst so hinzulegen, wie er gedacht war“. Das mache es dann augenscheinlicher und auch für die Regie nachvollziehbarer, wenn Szenen im Montageprozess umgebaut, verschoben oder ganz weggelassen werden. Auch schneidet Lisa während des Sichtens für sie besonders wichtige Takes, Momente oder Bilder in Extra-Sequenzen hinein („damit ich sie ja nicht vergesse“). Sabine Derflinger, für die Lisa derzeit einen Dokumentarfilm über Alice Schwarzer schneidet, nennt diese Sequenzen Lisas „Goodies“.

Für Lisa ist das, was sie macht „Montage“ und nicht „Schnitt“. Und sie bezeichnet sich auch nicht als „Cutterin“, sondern als „Editorin“. „Ich baue Filme, füge Bausteine zusammen, ich erzähle eine Geschichte. ‚Cutter‘ hört sich an, als ob man nur Sachen wegschneidet“, meint Lisa dazu. Die Begriffsangleichung an den englischsprachigen Gebrauch (editor) sei auch ein Anliegen von TEMPO, einem 2019 gegründeten Netzwerk internationaler Editor*innenverbände, in dem Lisa gemeinsam mit Christoph Loidl die Austrian Editors Association vertritt.

Ebenso hilfreich für Lisas Arbeit: die Legung von Szenenkärtchen in Form von ausgedruckten Stills (wie bei Me, We, oben) oder beschreibenden Post-Its (wie bei Die Kunst der Folgenlosigkeit, unten, gemeinsam mit Regisseur Jakob Brossmann).

Für Lisa wiederum ganz was anderes war die Arbeit am höchstintimen Essayfilm Was eine Familie leisten kann (2021, 30 min), der dritte von Lisa editierte Film, der auf der Diagonale’21 zu sehen sein wird. Die Arbeit am Offtext, die höchstpersönliche Familiengeschichte der Regisseurin Sybille Bauer, dazu assoziative Bilder … Lisa sagt über die Zusammenarbeit: „Die Herangehensweise war dokumentarisch, weil man ja entlang einer persönlichen Geschichte erzählt. Aber wir wussten, dass wir assoziativ arbeiten wollen. Manche Bilder wurden für ganz bestimmte Textstellen geplant und gedreht und manche andere, ohne zu wissen, an welche Stelle des Films sie dann kommen würden. Ich fand das extrem spannend, in dieser Form experimentieren zu können.“

Der Ansicht aber, dass Filme erst im Schnitt entstehen, kann Lisa nicht hundertprozentig zustimmen: „Es gibt ja vorher schon ein Konzept, gedrehtes Material, eine Regie und viele andere Menschen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten in den Filmprozess einsteigen. Film ist immer Teamarbeit – das ist ja auch das Tolle daran.“ Daher sagt Lisa, dass jede dieser Positionen den Film auch für sich beanspruchen könne: natürlich die Regie, aber auch die Kamera, das Sounddesign, … und somit auch die Montage: „Für mich sind alle Filme, die ich editiere, immer auch ‚meine‘ Filme. Das sind immer auch meine Babys! Deswegen gebe ich auch immer alles. Weil es ja etwas ist, was auch ich in die Welt hinausschicke.“

von Dominik Tschütscher, im Mai 2021
Porträtbild oben © Patrick Münnich