Nur keine Routine
Rafael Haider beschäftigt sich mit vielen Facetten des Filmemachens. Der Wiener, der 1989 in Oberndorf bei Salzburg geboren wurde, studiert an der Filmakademie Regie – arbeitet aber auch als Cutter, in der Postproduktion und als Schauspieler. Sein Spektrum reicht vom Dokumentarfilm über surreale Kurzfilm-Miniaturen bis zu sozialrealistischen Dramen. Derzeit arbeitet er an einer Langfilm-Komödie, die den Motivations- und Teambuilding-Kult der modernen Wirtschaftswelt aufs Korn nimmt.
Rafaels Filmbegeisterung verdankt sich einer Kinderstube vor dem Narrenkastl: „Als Bub einer alleinerziehenden Mutter war ich oft allein zu Hause und habe entsprechend viel ferngesehen.” Was lief, wurde geschaut, ob Cartoons, Klassiker oder auch Sachen, “die eigentlich nicht ganz altersgerecht waren”. Über seinen ersten Tarantino-Film stolperte er im Nachtprogramm von RTL 2. Auch andere US-Autorenfilmer, etwa Jim Jarmusch, übten damals Vorbildwirkung aus.
Doch Rafaels erste Leidenschaft galt der Schauspielerei: „Wir hatten eine Deutschlehrerin, die uns kurze Szenen schreiben und vorspielen ließ – für mich das Spannendste am Schulalltag.” Animiert ging er ans Wiener Kindertheater, wo sich sein Interesse zusehends aufs Inszenatorische verlagerte: „Das Auftreten war lustig. Aber die Planung und Entwicklung der Szenen faszinierte mich noch viel mehr.” Warum nicht gleich hinter der Kamera? Mit 16 stand der Wunschberuf Filmemacher fest.
Dazu trug bei, dass Rafael früh Set-Luft bei Werbefilmdrehs schnuppern konnte, da seine Mutter in der Werbebranche tätig war und ihren Sohn öfter auf Filmsets mitnahm. “So konnte ich hinter die Kulissen blicken und damit eine Vorstellung davon bekommen, was an so einem Filmset eigentlich passiert.“ Nach der Matura wollte sich Rafael an einer Filmhochschule bewerben. Aber wo? „Ich habe einfach drauflosgegoogelt und kam zum Schluss, dass die beste Filmschule in North Carolina liegt. Für damalige Verhältnisse hatte diese nämlich eine tolle Website, mit Kurzfilmen drauf und ein Logo in Neonröhrenlook.”
Doch wo die USA in weiter Ferne lagen, wartete die Wiener Filmakademie gleich um die Ecke. „Die Webseite der Filmakademie war zwar fad und so kompliziert, dass ich es nicht einmal geschafft habe, das Intro zu überspringen. Aber die Bewerbungsfrist war damals im September, in North Carolina und bei deutschen Schulen im Februar. Ich dachte, ich probier’s mal in Wien, das klappt eh nicht – und dann kann ich es immer noch woanders versuchen.” Aber Rafael wurde auf Anhieb in die Regieklasse von Michael Haneke aufgenommen – als einer der ganz wenigen Studenten direkt nach der Matura.
Die meisten Projekte, die Rafael seither realisierte, entstanden im Filmakademie-Umfeld. Die Akademie war und ist für ihn nicht nur Ausbildungsstätte, sondern auch Spielwiese. „Hier lernt man mehr als nur zu inszenieren, nämlich das Filmemachen an sich – in all seinen Facetten. Wenn man sich nicht gegenseitig hilft, kommt kein Film zustande. Ich helfe auch immer gern bei anderen Studentenfilmen in unterschiedlichsten Positionen aus. So lernt man sehr viel über das Handwerk und bekommt auch ein Gefühl dafür, welche Regieanweisungen hilfreich und welche kontraproduktiv sind.“ Deshalb ist Rafael in vielfältigen Funktionen in Filmakademie-Abspännen zu finden: als Tonmeister, als Boomer, als VFX-Artist, als Regieassistent, als Cutter – und auch als Schauspieler.
Trotz seiner mannigfaltigen Fähigkeiten würde er bei seinen eigenen Filmen nie alles allein machen wollen. „Das wäre mir zu anstrengend. Außerdem entsteht sehr viel aus zwischenmenschlichen Reibungen. Es ist schwer, allein zu bestimmen: ‘Das ist super.’ Der Austausch mit anderen inspiriert mich.”
Rafael am Set von Esel (AT 2015, 24 min). Der ganze Film ist in der rechten Spalte verlinkt.
Beim Kurzfilm Esel, Rafaels erstem größeren Festivalstarter, beschränkte er sich demgemäß auf Buch und Regie – und drehte mit erfahrenen SchauspielerInnen wie Ingrid Burkhard und Haymon Maria Buttinger. Das sozialrealistische Drama handelt von einem Bauern, der damit ringt, sich von einem abgehalfterten Lasttier zu trennen. Ursprünglich wollte Rafael Laien casten, doch diese scheuten sich vor einem zehrenden Außendreh. „Es war unser großes Glück, dass wir Haymon fanden, eine Idealbesetzung. Wir mussten ihn nur etwas älter schminken: Er war damals um die sechzig, also eigentlich zu jung für die Rolle. So etwas hätte ich mich am Anfang meines Studiums nie getraut.” Mit Esel gewann Rafael das renommierte Kurzfilmfestival von Palm Springs und erhielt Preise in Poitiers, beim Molodist Festival in Kiew und eine Nominierung beim österreichischen Filmpreis 2016.
Während der Esel-Schreibphase lernte Rafael einen wichtigen Weggefährten kennen: Albert Meisl. „Wir waren meistens die Letzten an der Uni, sind uns beim Rausgehen ständig über den Weg gelaufen und dann oft etwas trinken gegangen. Irgendwann meinte Albert, er habe für einen Film über seinen Vater unzählige Stunden auf Mini-DV gesammelt. Ich schlug vor, die Aufnahmen zu digitalisieren.” Weil er mit dem Material so vertraut wurde, schlug Rafael seinem Kollegen vor, den Schnitt für Meisls Vaterfilm (AT 2015, 78 min), einer oft schmerzlich intimen Familiendoku, zu übernehmen. „Obwohl wir befreundet waren, war das ein Sprung ins kalte Wasser.” Der sich aber lohnte: Vaterfilm erhielt 2015 im Dokumentarfilmwettbewerb von Karlovy Vary eine lobende Erwähnung.
Albert Meisl und Rafael Haider nach der Preisverleihung beim Karlovy Vary Filmfestival 2015.
Meisl war derjenige, der Rafaels Schauspielpotenzial reaktivierte – und zwar für eine lose Trilogie schrulliger Kurzfilm-Komödien über prekarisierte Akademiker (Die Last der Erinnerung, AT 2016, 20 min; Der Sieg der Barmherzigkeit, AT 2017, 25 min; Die Schwingen des Geistes, AT 2019, 29 min). Die Figur des duckmäuserischen Musikwissenschaftlers Fitzthum, der von seinem Lieblingskonkurrenten Szabo in tragikomische Donquichotterien verwickelt wird, habe er seinem Bekannten praktisch auf den Leib geschrieben, so Meisl in einem Interview. Für Rafael ein Abenteuer: “Die Arbeit vor der Kamera kennenzulernen, zu verstehen, warum manche Takes besser werden als andere, das war eine Riesenerfahrung.” Er gibt zu, Aspekte seiner Persönlichkeit in Fitzthum wiederzufinden: „Konfliktscheue und zu große Zurückhaltung sind mir durchaus vertraut.”
Ob ihm das beim Regieführen in die Quere kommt? „Inzwischen habe ich Durchsetzungsstrategien entwickelt”, meint Rafael. Dabei halfen Erfahrungen als Regisseur von Werbeclips, wo es am Set oft viel stressiger zugeht als bei Studentenfilmen. „Mit meiner Zurückhaltung kam ich dort ins Straucheln. Der Schlüssel lag in der Rhetorik: Irgendwann begann ich meine Sätze nicht mehr mit ‚Ich glaube, es wäre besser, wenn…’, sondern mit ‚Da müssen wir…!’ Das hat alles verändert. Schlechte Ideen ernten ohnehin Widerspruch. Doch wenn man von vornherein breite Angriffsfläche bietet, sträuben sich alle viel schneller dagegen. Mit der richtigen Sprache kann man viele Probleme vermeiden.”
Zudem bemüht sich Rafael nun, beim Dreh eine Balance der Temperamente herzustellen. „Ich bin ein ruhiger Typ. Also achtete ich darauf, auch energische und extrovertierte Leute im Team zu haben. Das sorgt für Gleichgewicht.” Seine Werbefilmtätigkeit sieht er als probate Ausbildungsergänzung: „Bei Kurzfilmen lernt man zwar viel, doch zwischen Drehs können Jahre vergehen, da bleibt nicht immer alles hängen. In der Werbung dreht man schnell und viel: Das ist wie der Unterschied zwischen täglichen und wöchentlichen Klavierübungen. Andererseits sind Werbedrehs viel stärker technisch orientiert, es gibt weniger künstlerischen Spielraum.”
Bei Rafaels Doku Das erste und das letzte Mal (AT 2018, 49 min) spielten solche Überlegungen noch keine Rolle. Sie feierte 2018 Premiere auf der Diagonale, entstand aber viel früher. Wie einiges im Schaffen Rafaels hat sie ihren Ursprung im Wiener Kindertheater: Dessen Leiterin Silvia Rotter fragte ihn 2010, ob er ein Projekt mit Supermarktlehrlingen filmisch begleiten wollte. Das Resultat wurde nur selten gezeigt. Erst begeisterte Reaktionen bei einem internen Filmakademie-Screening spornten Rafael an, die Aufnahmen für einen Festivaleinsatz aufzubereiten.
Die Zwanglosigkeit des Ausgangsmaterials, das unverhofften Shakespeare-Jungdarstellern auf Augenhöhe begegnet, trägt wesentlich zum Charme des Endprodukts bei. „Ich war damals 21, nicht viel älter als die Lehrlinge selbst. Wir haben uns gut verstanden, waren oft gemeinsam rauchen. Meine ersten ‚Regie’-Erfahrungen als Jugendlicher waren Urlaubsfilme mit Freunden, gemeinsames Herumblödeln – damit hat diese Doku gewisse Ähnlichkeit.” Zwar gibt es auch einige heikle Momente: Eskalationen, Streit. Doch ihr Verbleib im Film ist wohlbedacht: „Ich habe die Szenenauswahl gemeinsam mit meiner Cutterin Bettine Ties getroffen – und schon während des Drehs mit den Protagonisten über problematische Stellen geredet.”
Und noch einmal Rafael Haider und Albert Meisl gemeinsam, dieses Mal vor der Kamera: für den komödiantischen Kurzfilm Die Schwingen des Geistes (AT 2019, 29 min.).
Die Bandbreite von Rafaels junger Filmografie ist bemerkenswert: Sie reicht von kafkaesken Improvisationsstücken mit Fantasy-Einschlag (I feel like dancing, AT 2016, 13 min) bis zu feinfühligen Beziehungsporträts aus der Kinderperspektive (Because the Night, AT 2018, 14 min). Auch eingedenk seiner vielfältigen Rollenfächer hinter der Kamera drängt sich die Frage auf: Ist hier jemand süchtig nach Abwechslung? Das Thema diktiert den Stil, meint Rafael. “Der Inhalt steht für mich im Vordergrund. Wenn mich eine Geschichte interessiert, versuche ich, eine passende Form dafür zu finden. Und die ist natürlich nicht immer gleich.”
Außerdem ist Rafael ein Freund von Weiterbildung. “Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass ich am glücklichsten bin, wenn ich ständig Neues lerne. Was natürlich im Widerspruch zu unseren gesellschaftlichen Lebensentwürfen steht. Das fiel mir schon beim Bundesheer auf: Für viele dort war der Wehrdienst die letzte Hürde vor dem Beginn ihres gesetzten Lebens. Sie hatten eine Ausbildung, eine Stelle, eine Partnerschaft, eine Wohnung – mit 18! Das konnte ich nicht nachvollziehen, ich fürchtete mich vor Routinen.”
Rafael bei einem Fotokurs in Wien mit einer Gruppe Jugendlicher aus Indien.
Auch das Projekt, für das Rafael sein BKA-Stipendium bekommen hat, bringt ihn auf neues Terrain: Ein Langfilm soll es werden – und eine Komödie. „Seit kurzem gebe ich Amateurfotokurse, mache mit Kleingruppen Kameraübungen. Das nährte in mir den Gedanken an einen Film, in dem sich jemand in einer Trainerrolle verliert, für die er überhaupt nicht geeignet ist.”
Auch anderweitig angeregt formierte sich ein Grundkonzept: „Es geht um ein Unternehmen, das nicht mehr zeitgemäß ist: eine Druck-Firma, die Klischees und Schablonen herstellt. Die Online-Konkurrenz setzt ihr stark zu. Auf der Suche nach Modernisierungsstrategien kommt der Chef auf die Idee, ein Teambuilding-Seminar zu veranstalten. Doch weil er sich keinen professionellen Trainer leisten kann, fragt er einen Mitarbeiter. Und der steigert sich, motiviert von manischen YouTube-Tutorials, total in seine neue Aufgabe hinein.”
Die Tutorial-Idee kam Rafael bei der Sichtung von Lehrvideos eines dänischen Gitarristen: „Der ist am Anfang supernett und versucht einem irgendwelche Skalen beizubringen. Aber am Ende brüllt er immer herum und beschwert sich, dass die Leute nicht genug Zeit mit Üben verbringen. Einmal bin ich beim Schauen eingeschlafen – und kurz darauf aufgewacht, weil er plötzlich aus dem Computer rausgeschrien hat. Da spürt man einen irrsinnigen Selbstoptimierungsdrang durch. Genau wie bei diesen ‚People are Awesome’-Clips. Sie stellen zur Aufmunterung außergewöhnliche Fähigkeiten zur Schau, und am Ende denkt man sich nur: Die können alles – und ich kann gar nix!”
Den Leistungsdruck, der auf Menschen lastet, die in der zeitgenössischen Wirtschaftswelt erfolgreich sein wollen, kennt Rafael aus seinem Bekanntenkreis. „Viele alte Schulfreunde von mir versuchen, selbständig Geschäfte aufzumachen oder Start-ups zu gründen. Leicht haben sie es damit nicht. Mich interessiert in diesem Zusammenhang die Vorstellung: Was passiert, wenn jemand all die Motivations-Mantras der Gegenwart so richtig ernst nimmt? Wenn er sie mit der gleichen Leidenschaft umsetzt, mit der sie vorgetragen werden? In meinem Film endet das in einem komplett verrückten Teambuilding-Wochenende.” Die Energien eines solchen Events will Rafael auch für den Dreh anzapfen: „Mir gefällt der Ansatz, mit einer Gruppe von Schauspielern irgendwohin zu fahren und dann wirklich einen Teambuilding-Workshop abzuhalten: Improvisationsspiele zu spielen, um dem Ganzen dokumentarischen Charakter zu verleihen.”
Das Comedy-Genre hat freilich eine gewisse Bringschuld: „Dass die Welt mehr gute Komödien braucht, hört man seit Jahren. Zugleich habe ich das Gefühl, dass die Gattung nicht wirklich wertgeschätzt wird. Als Filmemacher geht man damit ein großes Risiko ein: Lacht das Publikum nicht, gilt eine Komödie automatisch als gescheitert. Beim Drama gibt es hingegen viele Mehrwerte.”
Was Rafael selbst witzig findet? Einiges: Linklaters School of Rock, vieles von Harun Farocki, die Bud Spencer-Klassiker, die er als Kind im TV gesehen hat. Aber auch amerikanische Stand-up-Comedy. Als er letzten Oktober zu Besuch in Portland war, stellte er fest, dass es in dieser Stadt eine rege Stand-up-Szene gibt. Am ersten Abend schaute er sich die Nachwuchskomiker aus Recherchegründen an. Am zweiten trug er sich selbst in die Liste für das Open-Mic ein – und erklomm am dritten höchstpersönlich die Showbühne. Sein Auftritt war ziemlich erfolgreich.