Sebastian Schmidl | BKA Startstipendiat 2017
Porträts

Sebastian Schmidl | BKA Startstipendiat 2017

Dezember 2017

„Ich kann mir nichts Besseres vorstellen“


Während der Regisseur und Drehbuchautor Sebastian Schmidl an seinem ersten Langspielfilm schreibt, reist sein mittellanger Spielfilm Liebling um die Welt. Ein Gespräch über die Langzeitwirkung von Der Weiße Hai, die Bedeutung von Wahrhaftigkeit und die Wichtigkeit von Kollektiven.

„Kunst hat die Aufgabe, Fragen zu stellen und nicht Antworten zu geben, um anschließend einen nachhaltigen Diskurs zu ermöglichen, denke ich“, sagt Sebastian Schmidl. Der Wiener Regisseur und Drehbuchautor arbeitet zurzeit intensiv an seinem ersten Langspielfilm, und das Projekt hat es in sich, denn Sebastian nimmt sich der Themen und Zustände an, die unsere Gegenwart zu dominieren drohen.

„Im Zentrum steht eine Familie, deren Alltag durch ein Attentat immer mehr ins Wanken gerät. Der Rückzug ins Private nimmt zu“, teasert Sebastian. Der Film soll die Fragen aufwerfen, ob wir mehr Freiheit oder mehr Sicherheit wollen und inwiefern sich die zwei Zustände ausschließen. „Was verändern äußere Gewalteinflüsse innerhalb einer Familiengemeinschaft? Wie verändert sich der Alltag, welche Vorurteile entstehen, wie wird gesellschaftlich, politisch und medial damit umgegangen und wohin führt das drohende Abschotten und Zurückziehen in Nationalitäten? All das sind Fragen, die mich interessieren“, sagt er. Mehr will er zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht vorwegnehmen.

„Im Leben ist alles vorhanden. Man muss sich nur die richtigen Kirschen für seinen Film pflücken.“

„Die Filme, die ich liebe, vereinen vieles und haben alles. Ich mag Genreelemente und verwende sie für meine Filme, wenn sie sich aus der Thematik, aber vor allem auch aus den Figuren ergeben. Denn im Leben ist alles vorhanden. Man muss sich nur die richtigen Kirschen für seinen Film pflücken, ohne dabei in eine Schwarz-Weiß-Logik zu verfallen, sondern vielmehr einen differenzierten Blick auf die Dinge als Ausgangspunkt zu nehmen. Mir geht es in meinen Arbeiten nicht ausschließlich um filmischen Realismus. Mir geht es viel stärker um Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit. Und durch die Wahrhaftigkeit kann ein eigener Realismus entstehen. Weil: Was ist Realismus? Sobald ein Schnitt da ist, habe ich eingegriffen.“

„Der Fokus liegt darauf, ein Gefühl zu vermitteln, sich dabei gleichzeitig stets an Fakten zu orientieren und sich seiner Verantwortung dem Publikum gegenüber bewusst zu sein.“

Sebastians bevorzugte Arbeitszeit fürs Schreiben von Drehbüchern ist die Nacht – mit all der Ruhe, die sie bringt. Detailgenauigkeit und Differenzierung sind ihm wichtig, die Recherchen sind tiefgründig, treten aber für den Schreibprozess in den Hintergrund.

„Mein Credo beim Schreiben ist: Wenn ich ein Drehbuch lese, muss ich einen Film sehen. Und wenn ich einen Film sehe, dann muss ich ihn lesen können, um im Idealfall wie in einem spannenden Buch zu versinken. Ich versuche, relativ visuell denkend zu schreiben. Beim Drehen ist es für mich wieder etwas anderes. Ich versuche, die Berufe Drehbuchautor und Regisseur zu trennen. Ich möchte ein Drehbuch nicht nur übernehmen und abfilmen, sondern es neu umdenken und neu umsetzen, und meist ist es im Schnittprozess so, dass der Film wieder sehr nah an das Buch herankommt, im besten Fall aber weitere Ebenen dazugekommen sind.“

Eine Supplierstunde hat alles klargemacht

Sebastians erste Drehbücher sind inzwischen zwanzig Jahre alt. Als Zehnjähriger bekam er von seinem Vater, der seinen Kindern Filme von Billy Wilder und Helmut Dietl zeigte, eine Kamera geschenkt. Mit Freunden und seinen Geschwistern drehte Sebastian Kurzfilme – er übernahm Regie, Drehbuch, Kamera, Schnitt, die Geschwister, Freundinnen und Freunde machte er zu SchauspielerInnen. „Immer, wenn wir schulfrei hatten, haben wir etwas gedreht. Ich habe immer mehr Filme geschaut, Bücher gelesen und versucht, mir das Handwerk mehr und mehr anzueignen.“

Das erste Mal einen Film von Tarkovskij, Buñuel, Kubrick, Mike Leigh oder David Lynch zu sehen, den ersten Wong Kar-wai, Nuri Bilge Ceylan oder Close-Up (1990) von Abbas Kiarostami – diese und viele andere seien prägende Filmmomente gewesen, schwärmt Sebastian.

Zwei für seine Laufbahn als Drehbuchautor und Regisseur bedeutende Seherlebnisse verdankt Sebastian Steven Spielberg und Francis Ford Coppola: „Wenn ein Film bewirken kann, was Der weiße Hai (1975) bei mir bewirkt hat, seit ich den Film als Kind gesehen habe – dass ich Probleme habe, ins offene Meer zu gehen –, dann weißt du, was ein Film kann und welche Verantwortung es mit sich bringt, Filme zu machen.“

Zum ersten Mal ernsthaft darüber nachgedacht, Filmemacher zu werden, hat Sebastian mit vierzehn: „Wir hatten eine Supplierstunde und unser Deutschlehrer hat uns Der Pate (1972) gezeigt.“ Sebastian versank im Film und wusste danach: Das will ich unbedingt machen.

Vier Freunde sind ein Kollektiv

2008 begann er, am Filmcollege Wien Regie und Drehbuch zu studieren. Das Filmcollege existiert heute nicht mehr, Sebastian bedauert das. Mit anderen AbsolventInnen seines Jahrgangs war und ist er noch immer eng verbunden. Bereits zu Studienzeiten traf er auf Alexandra Makarová, Georg Weiss und Lisa Geretschläger – die drei übernahmen bei Sebastians mittellangem Abschlussfilm Liebling (AT 2014, 42 min) Produktion, Kamera und Schnitt.

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Freundes-Kollektiv am Set von Liebling (R: Sebastian Schmidl, AT 2014, 42 min).

Mit Liebling reist Sebastian inzwischen um die Welt und wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Die internationale Premiere fand beim Filmfestival Max-Ophüls-Preis 2016 in Saarbrücken statt und der Film wurde beim First Steps Award – Der deutsche Nachwuchspreis als bester mittellanger Film nominiert. Beim 19. Kyoto International Student Film Festival wurde das Kinopublikum während der Vorführung des Dramas ganz leise und Liebling gewann sowohl den Grand Prix als bester Film als auch den Publikumspreis. Dass ZuschauerInnen die Dimension des Films begreifen, ganz unabhängig davon, ob sie in Valencia, Philadelphia, Mainz oder Kyoto zuhause sind, ist für Sebastian ein wunderschönes Erlebnis.

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Sebastian mit Kameramann Georg Weiss und Produzentin Alexandra Makarová beim International Student Film Festival in Kyoto.

Sebastians großes Interesse in seinen Filmen gilt Familienkonstellationen und deren Auswirkungen. „Es kann jegliche Thematik über dem Film schweben, aber die Charaktere und die Konstellationen in unterschiedlichsten Beziehungen sind für mich dabei immer der Hauptfaktor.“

Mit Liebling gelingt es Sebastian, in wenigen Minuten zutiefst zu rühren und die Tragweite abzubilden, die zwischenmenschliche Beziehungen entwickeln können. „Der Film zeigt das letzte Wochenende, dass Hans (Andreas Kiendl) und Tamara (Anna Rot) als Paar in ihrem Haus verbringen. Genau genommen sind die beiden kein Paar mehr, sie sind, euphemistisch bezeichnet, „in Trennung lebend“. Aber wie ist das mit der Würde und dem Abschiednehmen? Bereits in den ersten Sekunden des Films folgt auf ein aufrichtig ausgesprochenes „Arschloch“ das Titelinsert „Liebling“.

Die Verachtung für die zuvor geliebte Person ist beachtlich, der Wunsch, den Partner doch wieder für sich zu gewinnen und zur Umkehr des Entschlusses zu bewegen, arbeitet gegen jegliche Selbstachtung. „Hast du Angst vor mir?“, bleibt als entsetzliche Frage in der Küche hängen, dann hört man ein Messer ins Spülbecken klirren. Es ist nicht die einzige Szene, die in ihrer Intensität an Alle anderen (2009) von Maren Ade erinnert. Jeder Satz sitzt, jeder Blick kann verletzen und jede Berührung als Versprechen missverstanden werden. Liebling erzeugt eine Atmosphäre, die einem fast körperlich nahegeht.

Das intime Kammerspiel ist zudem um die Figur des im Haus lebenden, pflegebedürftigen Vaters beziehungsweise Schwiegervaters (Hannes Thanheiser) erweitert. Mit einer Entscheidung ist auch das Schicksal des alten Mannes im Rollstuhl besiegelt. Es sind die kleinsten Momente in Beziehungen, die das große Ganze bestimmen.

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Still aus Liebling: Komplizierte Familienkonstellation – Der (Schwieger-) Vater (Hannes Thanheiser), Tamara (Anna Rot) und Hans (Andreas Kiendl) an einem Tisch.

Seinen Wunsch-Cast hatte der Drehbuchautor und Regisseur beim Schreiben im Kopf. Jedes Mal, wenn das der Fall ist, zieht Sebastian ein persönliches Treffen einem klassischen Casting vor. Er will sehen, wie SchauspielerInnen in authentischen Momenten agieren. Einen Fragenkatalog hat er für diese Begegnungen nicht, er unterhält sich mit potenziellen Darstellern über das Drehbuch. Im Fall von Liebling war die Zusammenarbeit mit Andreas Kiendl und Anna Rot bereits nach dem ersten Kaffee beschlossene Sache.

Es ist beeindruckend, wie sich Sebastian nicht gerade der leichten Themen annimmt. Sport ist für ihn ein Ausgleich zur Filmarbeit. Sechzehn Jahre hat er im Fußballverein gespielt. „Beim Sport kann man die Sachen wenigstens auslaufen! Beim Schreiben ist man sehr viel mit sich selbst in der Diskussion. Ich bin sehr froh, dass ich mein Arbeitskollektiv habe. Ich sehe durch die Augen der anderen mein Drehbuch oder meinen Film wieder neu. Jeder von uns macht das für den anderen.“

Zerschlag mein Herz!

Das Vierer-Kollektiv arbeitete auch gemeinsam am ersten Langspielfilm von Alexandra Makarová mit dem so poetischen wie gewaltigen Titel Zerschlag mein Herz (AT 2018). Gemeinsam mit der Regisseurin hat Sebastian das Drehbuch geschrieben und zwei Jahre für den Film recherchiert. Der Schauspieler Simon Schwarz und der Filmproduzent Konstantin Seitz taten sich für das Projekt als Produzenten zusammen.

Alexandra Makarová, die aus Košice in der Ost-Slowakei kommt, hat für den Spielfilm ein Thema aufgegriffen, das ihr seit langem am Herzen liegt: „Die andauernde Diskriminierung der Roma, die in der Slowakei beinahe keinerlei Chancen besitzen, aus ihren Slums ‚wegzukommen’“. Der Film erzählt die Liebesgeschichte zweier Roma-Teenager, die ihre finanziell armen, familiären Verhältnisse in der Ost-Slowakei verlassen und versuchen, sich auf Wiens wohlhabenden Straßen durchzuschlagen.

Die Dreharbeiten waren ein prägendes Erlebnis, sowohl in Österreich als auch in der Ost-Slowakei: „Du fährst durch einen kleinen Ort, der auch in Niederösterreich sein könnte, fährst durch eine Siedlung, und da siehst du am Ende der Straße dieses Dorf auf einem kleinen Hügel, bestehend aus dutzenden kleinen Holzhütten und anderen kleinen, baufälligen Häusern, in denen unzählige Erwachsene und Kinder auf engstem Raum zusammenleben. Wir wurden sehr herzlich aufgenommen und sind mit den Menschen ins Gespräch gekommen“, sagt Sebastian.

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Setfoto von Zerschlag mein Herz (R: Alexandra Makarová, AT 2018).

„Es wird einem klar, wie es anderen Menschen in einem EU-Land gar nicht weit weg von Österreich ergeht und in welchen Verhältnissen gelebt wird. Unser Hauptdarsteller Roman kommt aus einem Dorf, in dem sehr schwierige Verhältnisse herrschen. Nach der Drehzeit in Wien haben wir ihn nach Hause in sein Heimatdorf gebracht und es sind viele Tränen geflossen. Wir haben versucht, alle DarstellerInnen so gut es geht zu unterstützen und sind noch in Kontakt.“

Trotz dieser Tatsachen, oder gerade deswegen, wurde der Film sehr farbenfroh. Mal sind die Wände lila, mal die Kleidung bunt. Ganz so, wie es das Filmteam vor Ort gesehen und erlebt hat. Der Film soll 2018 herauskommen.

„Filmemachen”, sagt Sebastian, „heißt für mich Entwicklung und Prozess. Egal, an was man arbeitet: Wenn man ein Projekt abgeschlossen hat, ist man oft schon wieder wo ganz anders. Das Schöne dabei ist die Abwechslung und dass es keine Formel gibt. Man ist immer gerade in der Phase, in der man momentan eben ist. Zwei Monate später kann sich die Sicht schon wieder komplett verändert haben. Dadurch bleibt es spannend, neu und herausfordernd. Es werden unterschiedlichste Kunstformen und Handwerke vereint. Und das alles wird gemeinsam mit unterschiedlichsten Köpfen in Form eines Kollektivs hergestellt. Ich kann mir nichts Besseres vorstellen und deswegen ist es auch meine Leidenschaft.“

von Maria Motter, November 2017
Fotos zur Verfügung gestellt von Sebastian Schmidl
Porträtfoto von Michèle Yves Pauty