„Filmemachen ist keine Komfortzone“
Sichtweisen

„Filmemachen ist keine Komfortzone“

Karina Ressler, Dezember 2021

Karina Ressler studierte an der Filmakademie Wien, wo sie sich nach zwei Jahren Generalausbildung auf Schnitt spezialisierte. Sie ist eine der profiliertesten Editorinnen des Landes, arbeitete mit Jessica Hausner (Little Joe, Amour Fou, Lourdes, Hotel), Götz Spielmann (Revanche, der 2009 für den Oscar Bester fremdsprachiger Film nominiert war), Arash T. Riahi (For A Moment Freedom, Girls and Gods) und vielen anderen Regisseur*innen und erhielt für ihre Montage-Arbeiten etliche Preise. Seit 20 Jahren unterrichtet Karina oder gibt Workshops für Editing, von 2014 bis 2019 war sie Professorin für Montage an der HFF – Hochschule für Fernsehen und Film München.

Der folgende Text ist einer von vier Beiträgen von etablierten Filmemacher*innen und Lehrenden zum Thema Damals & Heute

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Die wirklichen Veränderungen im gesellschaftlichen Leben finden im Untergrund statt. – Joan Didion

Als jüngste siebte Kunst macht der Film im Moment eine Entwicklung durch, die die Musik, die Literatur und die bildende Kunst bereits hinter sich haben: die Reproduzierbarkeit – oder im Speziellen – die Verfügbarkeit. Die Aura, die der Film ja nach Walter Benjamin nie hatte, die aber auf der großen Kinoleinwand dennoch spürbar war, sie scheint auf dem Display eines Handys zu verschwinden.

Tut sie das wirklich? Waren nicht die Stimmen in der Zeit Gutenbergs die gleichen, die den Verfall der Sprache vorhersagten angesichts des Buchdrucks für „das Volk“ im Gegensatz zur zentralistischen Wissensverwaltung der Klöster? Ist es nicht eine Erweiterung, die wir gerade erfahren und die unsere Zeit des Umbruchs so reich macht?

Die Fragen waren zur Zeit meines Studiums andere. Das scheinbar triviale Fernsehen stand dem fast religiös verehrten Kino gegenüber. Sonst war da nichts: keine Plattformen, keine Streamingdienste, keine DVDs, ja – auch keine Videokassetten. Ich war beflügelt von der reinen Idee des Cineastischen. Dementsprechend voller Arroganz dem vermeintlich Seichten gegenüber. Der berufliche Erfolg erschien mir nicht wichtig, meine Unbestechlichkeit aber schon. Ich hatte wenig Geld, dafür die Freude am Experiment. Dass ich trotzdem den Weg in die Branche gefunden habe, liegt an der fruchtbaren Zusammenarbeit mit jungen Produzenten (damals bis auf eine Ausnahme noch alle männlich), gleichaltrigen Regisseurinnen, Regisseuren und Kameraleuten: Gemeinsam haben wir uns mit Verve und Beharrlichkeit in die Dokumentarfilm- und dann weiter in die Spielfilmszene hineingegraben.

Immer wieder gibt es bei mir den Wunsch, einmal alle im Film Tätigen nach deren sozialer Herkunft zu befragen. Aus welcher Familie muss man kommen, um den Sprung in die Kunst zu wagen? Woher nährt sich der Glaube an den Wert von Film und damit an den Wert der Arbeit daran? Und wie muss eine Familienkonstellation aussehen, die es ermöglicht, zu studieren und mit den immer wieder auftretenden Zeiten der Nicht-Beschäftigung umzugehen? Umgekehrt gefragt: Welche/r Filmschaffende kommt aus der Arbeiterschicht?

Nachdem sich jedoch die Arbeitsverhältnisse im Neoliberalismus generell verändert haben (Fragmentierung der Arbeitsbiografien, Drängung in die Selbstständigkeit) und die jungen Menschen in vielen Berufen jahrelang für (oft unbezahlte) Praktika arbeiten müssen, scheint mir die Filmbranche keine sonderliche Ausnahme mehr zu sein. Zynisch könnte man sagen: Die Filmwelt ist die Avantgarde der prekären Arbeitsverhältnisse – wir leben vor, was langsam Usus wird. Also: cool bleiben! Und natürlich geht damit einher, dass wir allgemein für bessere Lebens- und Arbeitsverhältnisse für ALLE kämpfen (sollten).

Wie kann Film unterrichtet werden? Kann Kunst überhaupt unterrichtet werden? Der wesentliche Teil der Heranführung zum Film ist das Machen, das Herstellen, das unentwegte Versuchen, Sich-Irren, Korrigieren, Erforschen, im Sehen-in-die-Welt die eigene Lust und die eigenen Visionen entdecken. Da sind sich viele Hochschulen und Akademien einig. Nicht einig sind sie sich in der Ausrichtung auf ein Ziel – sie variieren in ihrem Grad der Deutung des Films als Kunst oder Ware. Die Orientierung an den Bestellern oder das Wagnis des Noch-nicht-Verstandenen.

Doch das Spektrum der Möglichkeiten ist breit: von der Serie à 20 Minuten über den 20-Uhr-15-TV-Film bis zum Filmwerk, das im großen Kino oder im Museum in der Black-Box gezeigt wird – der Hunger nach filmischer Erzählung ist riesig! Als ich studierte (Leute, das war Ende der 1970er Jahre!), hieß der Inbegriff des Ersehnten der „breitenwirksame Qualitätsfilm“. Film sollte große Kunst und dennoch von der „breiten Masse“ geliebt sein. Angesichts von Federico Fellini („Ich hasse logische Schemata“), Lina Wertmüller („I’ve always done what I wanted to do, so that’s fine, I think“) und Co. erschien uns das damals möglich. Und immer wieder kommt es vor, dass diese scheinbar paradoxe Vision in Erfüllung geht: cineastisch herausragend, inhaltlich scharf und dennoch (oder gerade deshalb?) ein offenes Werk, das Menschen unterschiedlicher Kulturen und Milieus begeistert. Daran hat sich in den letzten 30 Jahren nichts geändert. Hinzugekommen sind aber die vielen Spartenkanäle und Festivals, die spezielle Interessen für spezielle Filme kanalisieren und so Nischenprodukte international sichtbar werden lassen. In der Summe können auch hier die Zuseher*innen sehr viele werden.

Filmemachen ist keine Komfortzone. Wer starken Gegenwind nicht erträgt, sollte einen anderen Weg suchen. Filmemachen wirft die handelnde Person direkt in die reale Welt mit all ihren Unebenheiten: harte inhaltliche Kritik am Werk, zu überwindende Hindernisse bei der Finanzierung, Auseinandersetzung an vielen Stellen der Entwicklung mit vielen Akteur*innen. Filmemachen heißt, direkt im politischen Zentrum zu stehen, heißt, den zivilisierten Wettkampf zu führen, „Meinungsverschiedenheit im kultivierten Dissens“ (Marie-Luisa Frick: Zivilisiert streiten) auszufechten. Die Freude am Konflikt muss Teil der Arbeit sein, die Freude an der Reibung kann Energie bringen. Leben ist Bewegung. Arbeit ist Leben. Ein Buchtitel zu Jean-Luc Godard bringt es auf den Punkt: Liebe Arbeit Kino. Rette sich wer kann (Das Leben).

Erzählen geht über das Berichten hinaus. Es ist ein Erforschen der Wirklichkeit. Erzählen heißt Bedeutung generieren. Bedeutung des Gesehenen, aber auch Bedeutung der Perspektive der Betrachterin / des Betrachters. Zusammenhänge begreifen. Die Welt erkennen und sich selbst erspüren. Staunen und Handeln. Neben der ansteigenden kommerziellen Nachfrage nach filmischem „Content“ ist da die aufklärerische Aufgabe von filmischen Erzählungen. Die Wahrheit des Faktischen war nie selbstverständlich. Fakten haben eine „Interpretations- und Gewichtungsbedürftigkeit“ (Frick). Im unendlichen Strom von Informationen wird die Leuchtturmfunktion der Kunst immer wichtiger: Komplexe Verhältnisse lassen sich nicht allein rational benennen – eine schöpferische Verdichtung kommt näher an die Wahrheit heran.

Besessenheit ist nötig. Kelly Reichardt sagt in einem Interview mit Vanity Fair: “Filmmaking is so hard, I just can’t imagine doing it if you weren’t just totally [into it]. I always wonder – if this is the last year of my life, what am I spending it on?”

Die Tools zur Bewältigung sind heute wie damals: vertraute Mitstreiterinnen zu finden, die „unterirdische Energie der kollektiven Arbeit … das Mysterium der Arbeit“ (Paolo Sorrentino) zu spüren. Der Sog des Gemeinsamen kann faszinierend und ergiebig sein. Die Oberfläche der Welt ändert sich. Die Strukturen des Films (Bild, Ton, Bewegung, Erzählung) und der Welt (Macht, Tod, Liebe) sind die gleichen wie immer. Sie müssen nur immer wieder neu definiert werden. So hat jede Generation die Aufgabe, die Wirklichkeit neu zu „übersetzen“, neu zu deuten und dadurch wieder neu zu formen.

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Foto © Magdalena Blaszczuk